Lehrer, Professoren, Experten – viele melden sich beim Thema Bildung zu Wort. Aber hört überhaupt jemand, was die Kinder zu sagen haben? Bei Lara-Luna Ehrenschneider, Alma de Zárate und Jamila Tressel hört man seit einiger Zeit tatsächlich zu. Die drei, bis vor kurzem noch Schülerinnen der Evangelischen Schule Berlin Zentrum, kritisieren die Schule aus Sicht der Kinder. Darüber haben sie nicht nur ein Buch geschrieben („Wie wir Schule machen“), sondern geben sogar erfolgreich Fortbildungen für Lehrer und Manager. Beim EduAction-Bildungsgipfel wurden sie nun für ihr Engagement und ihre Ideen ausgezeichnet. Im Interview erklärt Lara–Luna Ehrenschneider, was im Unterricht schief läuft, wie sie sich Schule vorstellt und warum die Zukunft den Querdenkern gehört
Erst einmal herzlichen Glückwunsch zum EduAction-Award! Seit eurem Buch sind vier Jahre vergangen, seid ihr eigentlich noch Schülerinnen?
Nur teilweise. Jamila macht gerade ihr Abi, Alma hat dieses Jahr die Schule abgeschlossen und ich studiere mittlerweile im zweiten Semester Philosophie, Kulturreflexion und Kulturelle Praxis an der Universität Witten/Herdecke.
In eurem Buch habt ihr viel über eure Schule erzählt, der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ). Es scheint, als wärst du da ziemlich gerne hingegangen.
Ja, total. Ich bin in der 7. Klasse auf die ESBZ gekommen und habe schnell gemerkt, dass mir nichts besseres passieren konnte. Auf meiner alten Schule hatte ich immer das Gefühl, dass alles ein großer Konkurrenzkampf ist. Aber hier war plötzlich Teamfähigkeit gefragt, den Schülern wurde Mut gemacht, sich kennenzulernen und Verantwortung zu übernehmen.
Wie unterscheidet sich denn der Unterricht dort von herkömmlichen Schulen?
Jedes Schulfach hat ein eigenes sogenanntes Lernbüro, in das Schüler aus verschiedenen Jahrgangsstufen gemeinsam gehen. Der Gedanke dahinter ist, dass sich die Schüler gegenseitig helfen und unterstützen. Jeder kann in seinem eigenen Tempo lernen. Wenn jemand schneller ist, dann kann er einfach schon Stoff aus dem nächsten Jahr behandeln. Außerdem kann man seinen Stundenplan frei wählen. Wenn man morgens mal keine Lust auf Mathe hat, geht man halt ins Englischlernbüro.
„Wer denkt denn heute sonst darüber nach, worauf er gerade stolz ist?“
Und wenn jemand nie Lust auf Mathe hat?
Dafür ist der Tutor da. Jedem Schüler ist eine Lehrkraft als persönlicher Ansprechpartner zugeordnet. Wenn jetzt jemand für ein Fach überhaupt nicht motiviert sein sollte, wird gemeinsam ergründet, warum das so ist. Liegt es daran, dass er es einfach nicht gut kann? Dann sucht man zum Beispiel einen älteren Schüler als Mentor, der mit ihm fortan zusammen ins Lernbüro geht. Es werden eigentlich immer Lösungen gefunden. Mit dem Tutor setzt man sich auch jede Woche ein Ziel und hält fest was, was man erreicht hat und worauf man stolz ist. Das finde ich besonders toll. Wer denkt denn heute sonst darüber nach, worauf er gerade stolz ist? Das geht bei dem ganzen Höher-Schneller-Weiter total verloren.
Auf eurem Stundenplan standen ja auch besondere Fächer…
Wir haben einmal das Projekt „Verantwortung“, in dem man sich sozial engagiert und sich eine verantwortungsvolle Aufgabe sucht. Ich war dafür damals in einem Altersheim und habe mit den Senioren dort ein Kochbuch gemacht. Wir haben ihre alten Rezepte gesammelt und gemeinsam in den Computer eingetippt, da habe ich ihnen nebenbei noch einen PC-Kurs gegeben. Es ist super spannend, was da bei den Schülern und Menschen passiert. Zu sehen, dass man auch als Kind gebraucht wird und für andere da sein kann, ist eine unheimlich prägende Erfahrung.
Und dann haben wir das Fach „Herausforderung“. Da überlegen sich Schüler für drei Wochen eine Aufgabe, die sie mit 150 Euro irgendwie meistern müssen. Viele suchen sich da eine körperliche Herausforderung und gehen zum Beispiel auf eine Wanderreise. Ich bin zum Beispiel in der achten Klasse von Berlin nach Münster mit dem Fahrrad gefahren und habe dort auf einem Kuhhof gearbeitet. Da lernt man wirklich das wahre Leben kennen und Dinge wertzuschätzen. Ich glaube dass es ein Problem ist, wenn man in der Schule nur Theoretisches lernt und die praktischen Dinge vernachlässigt. Durch so eine Herausforderung wird jeder in seinem Inneren gestärkt, auch für andere Aufgaben in der Zukunft. Dieses Vertrauen, was andere in einen setzen und das jeder zu sich selbst entwickelt, lässt einen enorm wachsen.
„Die Welt braucht Querdenker und Menschen mit Visionen“
Was müsste sich deiner Meinung nach im Schulsystem konkret verändern?
Also generell finde ich, dass wir aktuellere Fächer brauchen. Die Welt verändert sich ständig, aber wir hängen noch im alten System. Man beschäftigt sich in Geografie vielleicht oberflächlich mit Umweltschutz, aber wie man nachhaltig Leben kann oder welche wirtschaftlichen Zusammenhänge mitreinspielen, das wird nicht thematisiert. Außerdem halte ich den klassischen Frontalunterricht für überholt. Der Lehrer steht vorne und redet und dabei würden die Schüler lieber selbst aktiv werden. Man könnte so viel interessanteren Unterricht machen.
Außerdem sollte man den Schülern mehr Zeit geben. An der ESBZ haben wir zum Beispiel das G8 abgeschafft und dafür einen Auslandsaufenthalt integriert. Man braucht einfach Zeit, seine Potentiale und Leidenschaften zu entfalten. Es bringt nichts, mit 17 in der Uni zu sitzen und gar nicht zu wissen, was man eigentlich machen möchte. Die Welt braucht Querdenker und Menschen mit Visionen.
Hast du das Gefühl dass sich seit eurem Buch etwas verändert hat?
Nach der Veröffentlichung haben wir viel Resonanz von Schülern bekommen, die auf ihrer Schule unglücklich sind. Es hat uns erschüttert, dass so viele zum Beispiel die Beziehung zu ihren Lehrern als gescheitert ansehen. Es muss noch viel passieren. Aber auf jeden Fall hat das Buch Mut gemacht für Veränderung. Wenn ich merke, wie Menschen auf mich zukommen, die durch das Buch gestärkt wurden und kleine aber wichtige Dinge in ihrem Schulumfeld verändert haben, dann berührt mich das sehr. Wir wollen anregen und aufrütteln, damit Lehrer, Schüler, Eltern, Direktoren und Politiker Dinge verändern. Die Zeit ist reif, eher schon überfällig. Ich wünsche mir, dass sich die Schule endlich an die Schüler anpasst, nicht immer nur die Schüler an die Schule.
„Wie wir Schule machen“ von Alma de Zárate, Jamila Tressel und Lara-Luna Ehrenschneider ist im Knaus Verlag erschienen.
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