In jeder fünften Familie zieht heute nur ein Elternteil den Nachwuchs groß. Wer es nicht selbst erlebt, ahnt nicht, wie nahe viele Alleinerziehende dem Burnout oder der Armutsgrenze sind. Selbst dann, wenn sie ihren Alltag gut im Griff haben

Am Morgen, wenn ihre beiden Söhne noch schlafen oder gerade aus der Tür sind, hat Ulrike Jürgens ein paar Minuten für sich. Sie rollt ihre Yoga-Matte aus und beginnt mit dem Sonnengruß – Tadasana, die Berghaltung, ein paar tiefe Atemzüge, dann weiter in die stehende Vorbeuge, Uttanasana. In dieser halben Stunde sei sie ganz bei sich, erzählt Jürgens. Sie schöpft Energie aus Yoga und Meditation. Die braucht sie auch.

2,7 Millionen Alleinerziehende

Jürgens ist alleine zuständig für die Familie, wie 2,7 Millionen andere Eltern in Deutschland auch. Ihre Lebensplanung sah ganz anders aus, lange hatte sie ein ganz klassisches Familienleben. Zwei Söhne, zwei Jobs, eine schöne Wohnung in Hamburg. Ihr Mann kümmerte sich liebevoll, den Haushalt machten beide. Sie spielten mit dem Gedanken, aufs Land zu ziehen. Aber dann zerbrach alles, Jürgens Partner verließ die Familie. „Das war ein großer Schock. Wir waren eigentlich ein eingespieltes Team. Auch seine Eltern haben uns bis zu ihrem Umzug im Alltag sehr unterstützt“, sagt sie. Mit dem Scheitern der Partnerschaft blieb alles an ihr hängen. Bis heute kümmert sich der Vater wenig, jedes zweite Wochenende sind die Kinder bei ihm. Der ganze Alltag mit Hausaufgaben kontrollieren und mal ein kaputtes Fahrrad reparieren hängt an der Mutter.

Wenn die elterliche Verantwortung nicht auf vier, sondern nur auf zwei Schultern lastet, erzeugt das großen Druck. Das sagt auch Gabi Bues, Pädagogin beim Verband alleinerziehender Mütter und Väter, Ortsgruppe Frankfurt am Main. Tatsächlich zeigt eine Befragung, die das Sozioökonomische Panel (SOEP) jährlich durchführt, dass Alleinerziehende deutlich unzufriedener sind als verheiratete Eltern.

„Allein und erziehend ist in Deutschland eine große Herausforderung“, sagt Bues. Die Kinder müssen versorgt und betreut werden, der eigene Beruf verlangt Flexibilität und Engagement. Für entspannte, erholsame, intensive Momente mit den Kindern, Freunden oder alleine bleibt kaum Zeit. Dazu kommen strukturelle Probleme wie eine schlecht ausgebaute Kinderbetreuung.

Alleingelassen

Gerade am Anfang sei sie oft überfordert gewesen, sagt auch Jürgens. Am schwersten: der Druck, zu funktionieren. Zeit, um Luft zu holen, mal einen Kaffee mit einer Freundin zu trinken oder abends mal raus zu kommen, war plötzlich gar nicht mehr möglich. Ein paar Freunde und Bekannte zogen sich zurück. „Ich habe mich alleingelassen gefühlt“, erinnert sich die 44-Jährige. Sie bekam Angstzustände mit Herzrhythmusstörungen und schlief kaum. Anderthalb Schachteln Zigaretten rauchte Jürgens täglich.

Inzwischen, vier Jahre nach der Trennung, sieht die Welt in vielem anders aus. Aber das Geld ist Jürgens Sorge geblieben. Wie bei vielen Alleinerziehenden. 40 Prozent der Grundsicherungs-Empfänger in Deutschland sind alleinerziehend – und das, auch wenn sie wie Jürgens gut ausgebildet und berufstätig sind. „Ich habe oft Angst, dass zum Beispiel meine Waschmaschine den Geist aufgibt. Auch lange Urlaube sind nicht drin. Die Freunde meiner Kinder fliegen weg, wir zelten in Holland“, sagt sie. Oft ist es eng, wenn auf einmal der Zuschuss für die Klassenfahrt, der Beitrag für den Sportverein oder das Geburtstagsgeschenk für einen Freund fällig ist. Und das trotz eines Fulltimejobs der Mutter und einem Vater, der immerhin Unterhalt zahlt – wenn auch nicht mehr, als er unbedingt muss.

Die Kinder zahlen drauf

Nur rund die Hälfte aller Männer bezahlt Unterhalt, und längst nicht alle so viel, wie sie müssten. Die andere Hälfte verweigert die Zahlungen (ohne große Konsequenzen) oder verdient zu wenig – der Unterhalt ist nach Einkommen gestaffelt. Ab einem Nettoeinkommen von 1500 Euro beträgt der Mindestunterhalt für Kinder unter sechs Jahren 342 Euro, für 6 bis 11-Jährige 393 Euro und für 12 bis 17-Jährige 460 Euro. Wenn vom Vater nichts kommt, springt der Staat ein – seit dem ersten Juli 2017 sogar bis zum 18. Lebensjahr. Allerdings ist die Summe vom Amt niedriger als der niedrigste Unterhaltssatz. Bis zum sechsten Lebensjahr des Kindes gibt es monatlich maximal 150 Euro, bis zum zwölften 201 Euro, danach 268 Euro. Kinder, die auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind, haben fast nichts davon.

Hinzu kommt ein Steuersystem, das zwar zum Beispiel mit dem Ehegattensplitting die Ehe fördert, aber Alleinerziehende steuerlich wie Singles ohne Kinder behandelt. Experten fordern schon lange eine Entlastung für Alleinerziehende – und eine stärkere Unterstützung ihrer Kinder. Ein Vorschlag: die Kindergrundsicherung. Die rund 500 Euro könnten einkommensschwache Familien entlasten und Kinderarmut bekämpfen, sagen ihre Befürworter. Ihre Kritiker halten den hohen Betrag für kaum nanzierbar. Auch eine härtere Sanktionierung säumiger Unter- haltszahler steht immer wieder im Raum – bleibt aber ungehört.

Selbst aktiv werden

Jürgens wartet nicht auf Hilfe, sie ist selbst aktiv geworden. Hat sich ein neues soziales Netz mit anderen alleinerziehenden Müttern aufgebaut und ist mit ihren beiden Jungs in ein Mehrgenerationen-Wohnprojekt gezogen. Die beiden sind größer und selbstständiger geworden. Von weniger Druck oder Belastung möchte ihre Mutter trotzdem nicht sprechen – eher von mehr Routine im Alltag. „Ich schaffe es ganz gut, nicht zur dauergestressten und gehetzten Mutter zu werden“, sagt sie. Sie nimmt jede Lücke in ihrem durchstrukturierten Alltag wahr – für das Yoga am Morgen, die Spielzeit vor dem Abendessen, den Ausflug am Wochenende.
Nach eigenen Wünschen für die Zukunft gefragt, zuckt Jürgens aber mit den Schultern. „Ich lebe zu sehr in der Gegenwart, um mir über eine bessere Zukunft den Kopf zu zerbrechen.“

Dieser Beitrag ist zuerst im enorm Magazin (Ausgabe 6/2017) erschienen. Er wurde ermöglicht durch ein „Schöpflin-Stipendium für lösungsorientierten Journalismus”. Die Schöpflin-Stipendien werden von der Noah Foundation gemeinsam mit der Schöpflin Stiftung vergeben.