Viele junge Paare wünschen sich eine partnerschaftlichere Aufteilung der Aufgaben in Familie und Job. Aber nur die wenigsten wagen dann den Schritt zur echten Gleichberechtigung. Wir haben ein Paar besucht, bei dem es funktioniert
Ein Kind stellt das ganze Leben auf den Kopf, das hören werdende Eltern ständig. Erst lächeln sie es eifrig weg, ein paar Monate nach der Geburt wird heftig genickt. Bei Hanna und Martin Drechsler, sie 32, er 36, ist diese Weisheit sogar noch ein bisschen wahrer. Die beiden Hamburger haben nach der Geburt ihres Sohns Jonne tatsächlich ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Beide haben die Jobs gewechselt, sind in ein generationenübergreifendes Wohnprojekt gezogen und haben ihren Alltag komplett neu organisiert.
Gleichberechtigung bei Arbeit und Familie
„Wir haben uns in der Schwangerschaft viele Gedanken gemacht, wie wir als Familie leben wollen“, sagt Hanna. Ein klassisches Bild mit Mann als Ernährer und Frau als Vollzeit-Mama kam für beide nicht in Frage. Das Problem war nur: Hannas Stelle wurde aus betrieblichen Gründen gestrichen, Martins Job als Vertriebler bei einem Spirituosenhersteller passte nicht zu einem Teilzeitmodell. „Eine Kündigung war quasi die einzige Chance, meine Vorstellungen von Familie umzusetzen.“ Zum Glück fand der Sozialpädagoge schnell eine neue Stelle bei der Hamburger Väter gGmbh, die Unternehmen in Sachen Familienfreundlichkeit berät. 30 Stunden arbeitet Martin dort. Auch Kulturwissenschaftlerin Hanna ist nach zehn Monaten Elternzeit ins Berufsleben zurückgekehrt und hat eine Coaching-Ausbildung gemacht. Jetzt baut sie sich eine Existenz als Freiberuflerin auf. Wie Martin arbeitet auch sie rund 30 Stunden pro Woche.
Mit dieser partnerschaftlichen Aufteilung sind die beiden die Ausnahme. Zwar wünschen sich immer mehr Frauen und Männer so ein Modell, aber sind die Kinder erst einmal auf der Welt, klafft zwischen Wunsch und Wirklichkeit eine große Lücke. Laut der 2017 erschienen OECD-Studie „Dare to Share“ dominiert in Deutschland immer noch der „Eineinhalbverdienerhaushalt“: Er arbeitet ganz, sie halb.
Argwohn und Kopfschütteln
„Männer in Teilzeit oder partnerschaftliche Familienmodelle sind noch nicht im gesellschaftlichen Mainstream angekommen“, bestätigt Volker Baisch. Der 51-jährige Sozialwirt ist Geschäftsführer der Väter gGmbH, Martins Arbeitgeber. Aus seiner Sicht gibt es in Wirtschaft und Gesellschaft noch viel zu wenig positive Beispiele für neue Rollenbilder. „Der hart arbeitende Versorger, der lange im Büro bleibt und seine Karriere vorantreibt, gilt in vielen Unternehmen immer noch als die Norm“, sagt er. Frauen, die schnell in Vollzeit zurückkehren und Männer, die für den Nachwuchs auf Karriere verzichten, ernten immer noch
Argwohn und Kopfschütteln. Wirklich? Nach all den Jahren Diskussion? Neben den Barrieren im Kopf spielt vor allem das Geld eine wichtige Rolle. Männer verdienen – auch bei gleicher Arbeit – oft mehr als Frauen. Diese Unterschiede bremsen die Gleichberechtigung – viele Paare können oder wollen sie sich angesichts hoher Mieten oder Betreuungs-Gebühren nicht leisten.
Wenn es darum geht, Gleichberechtigung zu fördern, sieht Baisch aber nicht nur die Politik in der Pflicht – sondern auch die Unternehmen selbst, seine Kunden. „In vielen Firmen ist Verantwortung immer noch mit langen Arbeitszeiten verbunden. Eltern müssen sich zwischen Familie oder Karriere entscheiden.“ Optionen wie Führungspositionen in Teilzeit stecken in den Kinderschuhen – im Gegensatz zum Beispiel zu Skandinavien. Dort wird Elternzeit als Qualifikation gesehen: Mütter und Väter sind oft ziemlich stressresistent, arbeiten häufig fokussiert und können sich schnell auf neue Entwicklungen einstellen.
Wir müssen reden
Hat es sich für Martin und Hanna gelohnt, das Leben fürs Kind und die Familie auf den Kopf zu stellen? Die geteilte Berufstätigkeit fordert viele Absprachen und genaue Planung. „Das ganze System funktioniert nur durch Kommunikation“, sagen beide. Der Wunsch nach Gleichverteilung ist oft mit Einschnitten verbunden: Martin verdient in seinem neuen Job deutlich weniger, seine Aufstiegschancen sind begrenzt. Hanna hat es schwer, sich in Teilzeit eine freiberufliche Existenz aufzubauen. „Aber eine Karriere im klassischen Sinn hatte bei uns ohnehin nie erste Priorität. Es geht eher um eine individuelle Weiterentwicklung – und die ist uns auf jeden Fall gelungen.“ Am wichtigsten ist ihnen aber: „Wir haben jetzt genug Zeit für uns.“
Dieser Beitrag ist zuerst im enorm Magazin (Ausgabe 6/2017) erschienen. Er wurde ermöglicht durch ein „Schöpflin-Stipendium für lösungsorientierten Journalismus”. Die Schöpflin-Stipendien werden von der Noah Foundation gemeinsam mit der Schöpflin Stiftung vergeben.