Der Bedarf an Betreuung nimmt zu. Doch nachbarschaftliche Hilfe ist nicht mehr selbstverständlich. Gernot Jochum-Müller fordert deshalb, dass Zeitsparen Teil der Altersvorsorge wird

Herr Jochum-Müller, Sie wollen in Österreich mit Zeitpolster eine neue Form der Altersvorsorge aufbauen. Wie läuft’s?

Bislang sehr gut. Der Österreichische Rundfunk (ORF) hat Zeitpolster zu einem der zehn wichtigsten Projekte des Landes ernannt. Das hat uns viel Aufmerksamkeit gebracht. Wir haben schon aus allen Bundesländern Österreichs Anfragen von Gemeinden, die mitmachen wollen. In den nächsten zwei Jahren werden wir vor allem in Wien und Vorarlberg gezielt Gruppen aufbauen.

Wie kann man mit Ihrem Modell vorsorgen?

Indem man Zeit anspart. Das funktioniert so, dass Sie andere Menschen unterstützen, zum Beispiel Ältere, aber auch Familien. Das kann eine Autofahrt zum Arzt sein, Hilfe im Haushalt oder bei der Gartenarbeit. Dafür erhalten Sie eine Zeitgutschrift statt Geld, die Sie später gegen Betreuungsleistungen einlösen können. Zum Beispiel, wenn Sie krank werden oder eben im Alter. Das Ziel ist, ein breites Netz an nachbarschaftlicher Hilfe aufzubauen. Unser Modell ist so strukturiert, dass sich auf der Ebene der Gemeinden eigenständige Gruppen bilden und wir als Träger dafür umfassenden Support bereitstellen.

Eigentlich sollte nachbarschaftliche Hilfe ja selbstverständlich sein.

Das ist sie aber nicht mehr. Das liegt auch daran, dass noch nie so viele Menschen erwerbstätig waren. Es fehlt oft die Zeit, sich um andere zu kümmern, sei es in der Nachbarschaft oder in der eigenen Familie. Der zweite Grund ist, dass der Bedarf an Betreuungsleistungen stark zunimmt. Wir haben eine heftige demografische Entwicklung, in Österreich genauso wie in Deutschland. Bald gehen die Babyboomer in Pension, das sind die Jahrgänge um 1960. Es wird also mehr ältere Menschen geben, darunter auch viele, die nur die Mindestpension bekommen. Diese sollten wir nicht allein lassen.

Die Gesellschaft soll also übernehmen, was die Familien nicht mehr leisten können?

Wo es möglich ist, sollte zuerst Hilfe aus dem Umfeld kommen. Wo das nicht geht, braucht es andere Formen der Unterstützung. Wobei die öffentliche Hand es nicht schaffen wird, hier einzuspringen und all die anfallenden Kosten zu stemmen. Zumal die Sozialfonds heute schon gedeckelt werden müssen. Wir brauchen hier neue gesellschaftliche Ansätze. Meine Vision ist, dass das ein fester Bestandteil der Altersvorsorge wird. Jeder, der möchte, sollte Zeit ansparen können.

Wie sieht es in anderen Ländern aus?

In Japan existiert ein solches System schon seit den 1990ern. Es heißt Fureai Kippu und wird von der Sawayaka Foundation organisiert. Meines Wissens existieren in Japan 300 lokale Gruppen mit jeweils bis zu 300 Mitgliedern. Es funktioniert ein bisschen anders als bei uns. Die Mitglieder können ehrenamtlich aktiv werden, sich Zeit gutschreiben lassen oder einen Lohn bekommen. Übrigens ist uns Japan auch in demografischer Hinsicht gut 15 Jahre voraus.

Und in Deutschland?

Es gibt einige lokale Initiativen, bei denen man Zeit ansparen kann. Zum Beispiel die Generationengenossenschaft GenoEifel oder die NUZ, das ist ein Verein im Allgäu für nachbarschaftliche Unterstützung und Zeitvorsorge. Im Detail funktionieren die Modelle alle ein bisschen anders, da wird im Moment viel ausprobiert, auch weil rechtliche und organisatorische Fragen erst geklärt werden müssen. Die Idee des Zeitsparens ist noch so neu, dass wir da im Moment Pionierarbeit leisten. Wir haben bei Zeitpolster auch einige Anfragen aus Deutschland und bereiten dazu ein Transfermodell vor.

Gernot Jochum-Müller

ist Berater, Coach und Projektentwickler. In seiner Heimat Vorarlberg gehört er zu den Gründern der Regionalwährung „Talente“. Sein nächstes Ziel: Er will die Zeitvorsorge landesweit etablieren.

Dieser Beitrag ist zuerst im enorm Magazin (Ausgabe 7/2018) erschienen. Er wurde ermöglicht durch ein „Schöpflin-Stipendium für lösungsorientierten Journalismus”. Die Schöpflin-Stipendien werden von der Noah Foundation gemeinsam mit der Schöpflin Stiftung vergeben.