Die Familie ist in unserer Gesellschaft eine Art dynamische Konstante. Zwar hat sie sich in den vergangenen Jahrzehnten gehäutet und gewandelt – aber trotzdem ist vieles beim Alten geblieben. Ein scheinbarer Widerspruch – Autor Birk Grüling löst ihn auf
Wie bunt Familienleben heute sein kann, sieht man am besten auf einem Spielplatz. Zum Beispiel in Hamburg-Ottensen, zwischen den Wippen und Klettergeräten auf dem Kemal-Altun-Platz. Obwohl in Sichtweite zur Haupteinkaufsstraße des Viertels, ist der Stadtlärm dort nur leise hörbar. Im Sand spielen die beiden Töchter eines lesbischen Paares; dank befreundeter Samenspender und zwei In-vitro-Fertilisationen haben sich die beiden Frauen ihren Kinderwunsch erfüllt. Ihre Töchter wachsen nun als Geschwister auf, ohne biologisch miteinander verwandt zu sein.
Die beste Freundin der Mädchen kommt dagegen aus einer „klassischen“ Mutter-Vater-Kind-Familie. Der Junge, der neben ihnen im Sand spielt, ist heute mit seinem Vater da; seit ihrer Trennung teilen sich seine Eltern die Erziehung. Ihr Kind lebt abwechselnd bei Papa und seiner neuen Freundin sowie bei Mama und ihrer neuen Familie. Unser Zusammenleben scheint heute so vielfältig wie nie – mit Regenbogen-, Stief-, Patchwork- oder Ein-Eltern-Modellen als akzeptierten Varianten von Familie.
Nicht einmal die so diversen Lebensmodelle sind sonderlich neu
Aber eigentlich ist alles beim Alten. Vater, Mutter, Kind – was in großen Teilen von Politik und Gesellschaft immer noch als Standard gesehen wird, war historisch betrachtet nur für kurze Zeit das klassische Modell – nämlich von den Fünfzigern bis in die Achtziger. Was wir heute an Vielfalt sehen, ist keine neue Erscheinung, sondern Ausdruck eines fortlaufenden Wandels der Familienstrukturen.
Nicht einmal die heute scheinbar so diversen Lebensmodelle sind sonderlich neu. Auch im 18. Jahrhundert gehörten zu einer Familie mehr Mitglieder als eine Mutter, ein Vater und ihre gemeinsamen Kinder. Mehrere Generationen lebten damals unter einem Dach, dazu Dienstmädchen und Knechte. Selbst Patchworkfamilien waren keine Seltenheit, auch wenn sich die meisten Eltern nicht so aktiv und freiwillig für diese Familienform entschieden wie heute.
Viele Mütter starben bei der Geburt, und ihre Männer brauchten schnell wieder die helfenden Hände einer Frau für die Arbeit in Haus und Landwirtschaft. In Kriegsjahren waren es dagegen die Männer, die auf dem Schlachtfeld fielen und nicht zu ihren Familien zurückkehrten. Alleinerziehende Mütter, die dann wiederum neue Ehen schlossen, wurden so alltäglicher.
Die einzig wirklich neue Familienform unserer Tage sind die so genannten Regenbogenfamilien, in denen Kinder bei zwei gleichgeschlechtlichen Partnern aufwachsen. Dank der modernen Reproduktionsmedizin können sie sich ihren Kinderwunsch heute erfüllen. Die „Ehe für Alle“ hat diesen Status zusätzlich gestärkt.
Familie zur Absicherung? Vorbei!
Deutlich stärker als die Familienformen selbst haben sich die Rahmenbedingungen verändert, innerhalb derer Familien sich bewegen. Die Freiheit, ganz individuell zu leben, ist heute sehr viel größer als früher. Das spüren auch Patchworkfamilien, die inzwischen als anerkanntes Modell von knapp 15 Prozent aller Familien gelebt werden. Frei entscheiden zu können, dieses Privileg gilt im Übrigen auch für die Familiengründung selbst.
Ging es früher darum, die eigene Existenz durch mithelfende Nachkommen abzusichern, ist das heute kein Thema mehr für junge Menschen – Kinder sind nicht mehr als Arbeitskräfte nötig, sondern sollen eine bewusst geplante Bereicherung des Lebens sein. Dementsprechend verschieben viele Paare die Familiengründung auf immer spätere Zeitpunkte und widmen sich erst einmal ihren Berufen. Im Schnitt bekommen Frauen heute mit Anfang 30 ihr erstes Kind. Werte wie Unabhängigkeit, Freiheit und Selbstverwirklichung haben für sie und ihre Partner zunächst einen höheren Stellenwert als der Gedanke an eine eigene Familie.
Zu lange auf die klassische Ehe fokussiert
Aber von der neuen Offenheit und Toleranz profitieren nicht alle Eltern. In Deutschland leben rund 2,7 Millionen Alleinerziehende, mehr als 90 Prozent von ihnen sind Frauen. Die wenigsten entscheiden sich bewusst dafür, ihre Kinder im Alleingang groß zu ziehen – das Scheitern der Partnerschaft zwingt sie dazu. Alleinerziehende Frauen tragen ein besonders hohes Armutsrisiko; sie und ihre Kinder haben mit sozialer Benachteiligung zu kämpfen.
Experten sprechen bei der wachsenden Gruppe von Alleinerziehenden sogar von den neuen Verlierern der Gesellschaft. Obwohl die meisten von ihnen berufstätig sind, müssen viele durch Hartz IV aufstocken oder beziehen Wohngeld. Einer der Hauptgründe dafür: ausbleibende Unterhaltszahlungen der Ex-Partner und mangelnde Unterstützung des Staats beim Eintreiben derselben. Alleinerziehende spüren besonders deutlich, das sich die deutsche Familienpolitik viel zu lange auf die klassische Ehe mit Kindern fokussiert hat – und das obwohl ihre Bedeutung schwindet.
Die nur mühsame Ablösung von alten Strukturen bremst auch eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Väter sind in Deutschland noch immer die Hauptverdiener und damit Ernährer der Familie – über 90 Prozent arbeiten in Vollzeit. Die Erwerbstätigkeit der Frauen hat zwar in den letzten zehn Jahren deutlich zugenommen – aber immer noch arbeiten die meisten Mütter in Teilzeit und tragen so im Schnitt nur ein knappes Viertel zum Familieneinkommen bei.
Die Ansprüche ändern sich
Umgekehrt ist das Verhältnis allerdings bei der unbezahlten Haus- und Erziehungsarbeit: Da übernehmen die Frauen mit 62 Prozent den Großteil des Jobs. Die traditionellen Rollenverteilungen wandeln sich langsam, mehr Väter wollen nicht mehr nur „ernähren“, sondern auch „erziehen“. Gleichzeitig wünschen sich viele Mütter einen leichteren Wiedereinstieg in den Job nach der Elternzeit – und bessere Chancen auf Karriere.
Den sich ändernden Ansprüchen gerecht zu werden, ist eine große Herausforderung für die Politik, die Unternehmen, aber natürlich auch für die Paare selbst. Kitas und Ganztagsschulen müssen weiter ausgebaut werden und ihre Öffnungszeiten stärker an die unterschiedlichen Bedürfnisse von Eltern angepasst werden. Unternehmen müssen sich familienfreundlicher aufstellen, die immer noch bestehenden Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen nivellieren. Führungspositionen in Teilzeit – warum sind sie immer noch so selten? Aber auch die jungen Eltern selbst sind gefordert: Sie müssen die neuen Möglichkeiten stärker einfordern – und wahrnehmen.
Wohnen mit der Wahlfamilie
Eng mit dem Wandel der Familie verknüpft ist die demografische Herausforderung, vor der Deutschland steht. Die Strukturen der „Großfamilie“ sind heute die totale Ausnahme. Für Studium oder Beruf ziehen viele Junge von zuhause weg. Oft haben sie dann keine familiäre Unterstützung, wenn ihre Kinder krank sind oder in der Arbeit Stress herrscht. Umgekehrt fehlt auch den Senioren der Kontakt: Die Zahl älterer Menschen, die weder Partner noch Kinder haben oder eben weit entfernt von ihnen leben, nimmt zu. Die Folge: Die Alten und die Jungen müssen sich heute eigene soziale Netze knüpfen – aus Freunden, Nachbarn, aber auch Babysittern oder Pflegekräften. Oder in neuen Wohnformen: Quartiere oder Bauprojekte, in denen Menschen in einer Art Wahlverwandtschaft zusammen wohnen und sich gegenseitig unterstützen. Mehrgenerationenhäuser stärker zu fördern, ist sicher eine Aufgabe für die Politik.
Aber vor allem sind Eltern selbst gefordert, auf bessere Bedingungen zu drängen. Sie wissen am besten, welche Flexibilität ihnen Kita und Arbeitgeber bieten müssen, wie bedarfsgerechte Wohnungen und Stadtviertel aussehen sollten. In den vergangenen Jahren sind viele Projekte aus der Zielgruppe für die Zielgruppe entstanden.
Dieser Beitrag ist zuerst im enorm Magazin (Ausgabe 6/2017) erschienen. Er wurde ermöglicht durch ein „Schöpflin-Stipendium für lösungsorientierten Journalismus”. Die Schöpflin-Stipendien werden von der Noah Foundation gemeinsam mit der Schöpflin Stiftung vergeben.