Julia Oertel wollte den Gründern und Kreativen im Hamburger Coworking-Space Betahaus eine flexible Kinderbetreuung anbieten. Ihr Projekt hat sie schnell mangels Interesse eingestellt. Und daraus gelernt: Auch die neue Arbeitswelt braucht feste Regeln
Eigentlich fand Julia Oertel, 33, ihre Idee ziemlich gut. Neben flexiblen Arbeitsplätzen, schnellem WLAN und trendigen Limonaden wollte sie im Betahaus eine eigene Kita-Gruppe für die Kinder ihrer kreativen Mieter gründen. Zwei Tagesmütter sollten in der Hebammenpraxis nebenan eine feste Runde von Kleinkindern betreuen, Babysitter sich zusätzlich um spontane Gäste kümmern – so der Plan. „Wir wollten vor allem Eltern ansprechen, für die normale Kita-Öffnungszeiten nicht ausreichen oder die während stressiger Projektphasen zusätzliche Betreuung brauchen“, sagt Oertel, die selbst Mutter eines kleinen Sohnes ist. An Vorbildern für ihre Idee mangelt es nicht; in Leipzig, Hannover oder Berlin funktioniert die Verbindung zwischen Coworking-Space und Kinderbetreuung gut. Auch viele große Unternehmen setzen auf Betriebskindergärten mit flexiblen Öffnungszeiten. Die räumliche Nähe von Schreibtisch und Kitagruppe spart Fahrwege und gibt den Eltern das Gefühl, zumindest in der Nähe ihrer Sprößlinge zu sein.
Flexibles Arbeiten stört das Familienleben
In Hamburg ist trotzdem nichts aus der Betahaus-eigenen Kita geworden. „Mit einem Hundesitter hätten wir wahrscheinlich mehr Erfolg gehabt“, scherzt Oertel. Aber was sind die Gründe? Eine Erklärung: Eltern können sich auf das gute Betreuungsangebot der Stadt verlassen. In den vergangenen fünf Jahren sind rund 130 neue Kitas eröffnet worden. Dazu kommt ein viel gelobtes Gutschein-System: Familien, in denen beide Eltern arbeiten, haben ab dem ersten Lebensjahr ihrer Kinder Anspruch auf eine 8-Stunden-Betreuung in der Kita oder bei einer Tagesmutter. Unabhängig von der Berufstätigkeit der Eltern hat jedes Kind ab dem Alter von einem Jahr einen Rechtsanspruch auf täglich fünf Stunden Betreuung – und die sind auch noch kostenlos. Selbst ein Ganztagsplatz kostet Eltern kaum mehr als 200 Euro.
Aber das ist nicht der Hauptgrund für das Scheitern von Julia Oertels Idee. Vielmehr hat sie erfahren: Flexibles Arbeiten passt nicht zu einem guten Familienleben. Viele Eltern brauchen keine noch flexiblere Kinderbetreuung – sondern wieder klarere Regeln im Job. Sie wollen nicht ständig erreichbar sein, sondern sich auf dem Spielpatz auch wirklich mit ihrem Kind beschäftigen können. Immer mehr Arbeitnehmer können zwar inzwischen im Homeoffice arbeiten und ihre Arbeitszeiten mitgestalten. Das gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Kinder morgens mit weniger Hektik in die Kita zu bringen oder nachmittags selbst von der Schule abzuholen. Dafür aber, so der Deal, klappen sie dann abends und am Wochenende den Laptop wieder auf. Und das funktioniert leider nur in der Theorie gut. „In der Praxis stehen viele – ich behaupte: die meisten – Eltern mit gezücktem Smartphone auf dem Spielplatz, arbeiten weiter, sind nicht wirklich anwesend. Das kann nicht die Lösung des Problems sein“, sagt Markus Albers, Autor des Buches „Digitale Erschöpfung“ und New Work-Experte.
Papa, leg’ das Handy weg!
Braucht es also den Schritt zurück, wieder hin zu klassischeren Arbeitszeitmodellen – um Arbeit und Familie besser zu trennen? Als zweifacher Vater spricht Albers aus Erfahrung. Immer wieder hat er sich dabei ertappt, wie er mit dem Smartphone auf dem Spielplatz stand und selbst beim Vorlesen einer Gute-Nacht-Geschichte auf seine Mails schielte. Seine Tochter forderte immer häufiger: „Papa, leg’ doch mal dein Handy weg!“ Das ging aber nicht, schließlich drängte die Arbeit. „Es war das genaue Gegenteil der neuen Arbeitswelt, an die ich immer glaubte. Ich fühlte mich keineswegs von alten Nine-to-five-Strukturen befreit, sondern eher in einer ständigen Erreichbarkeit gefangen“, sagt Albers. Sein Rat lautet deshalb: Eltern sollten sich bewusste Kommunikationspausen verordnen. Zum Beispiel bleibt das Smartphone in der Tasche, wenn man auf den Spielplatz geht oder das Kind von der Kita abholt. Mails sollten nur im größten Notfall nach Feierabend oder am Wochenende gecheckt werden. Damit das auch klappt, stehen nicht nur die Eltern selbst in der Verantwortung, sondern auch ihre Arbeitgeber: Sie müssen klar vermitteln, dass sie keinesfalls eine ständige Erreichbarkeit erwarten.
Always on? Von wegen
Auch Julia Oertel und ihr Partner mussten die digitale Abstinenz erst einmal lernen – für sich privat, aber auch für das Betahaus. Nach zehn Monaten Elternzeit ist Oertel an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt. „Mir ist die berufliche Erfüllung wichtig“, sagt sie. „Deshalb war es anfangs ein wirklich schwieriger Spagat zwischen Familie und Beruf.“ Früher, als Unternehmensberaterin, saß sie oft noch am späten Abend oder am Wochenende vor Laptop oder Smartphone. Ein Always-On-Arbeitsstil, der – so erlebt sie es nun als Mutter – mit einer guten Vorstellung von Familienleben nicht vereinbar ist. Wenn das Kind aus der Kita kommt, kann sie nicht ständig auf ihr Handy schauen, schließlich steht dem Sohn ihre Aufmerksamkeit zu. Und wenn sie abends, nach der Gute-Nacht-Geschichte, noch weiterarbeitet, leidet darunter die Paar-Beziehung. Die Folge: Im schlimmsten Fall sind alle genervt und gestresst.
Im Laufe der Zeit hat sich Oertel deshalb mit ihrem Freund auf klare Regeln geeinigt. Wenn der Kleine aus der Kita kommt, steht er ganz im Fokus. Der Laptop bleibt aber auch am Abend aus, späte Telefonate oder das Checken von Mails sind die Ausnahme. „Solche Grenzen zu setzen, musste ich neu lernen“, sagt Oertel. „Immerhin komme ich aus einer Arbeitskultur, die den Feierabend schon fast verlernt hat.“ Ihre New-Work-Flexibilität ist klareren Strukturen gewichen: Zwischen 9 und 15.30 Uhr sitzt sie im Betahaus am Schreibtisch. Eine konservative Arbeitszeit, angepasst an die Öffnungszeiten der Kita. Die Meetings finden in ihrem Berufsleben nun vor allem am Vormittag statt, Abendveranstaltungen zum Netzwerken sind für Oertel längst kein Muss mehr.
Von ihrer neuen Haltung profitiert nicht nur Oertels Familie. Sie bringt auch Vorteile für die anderen Eltern im Team. „Bei uns wird jedenfalls niemand schräg angeschaut, wenn er um 15.30 Uhr seinen Rechner herunterfährt“, sagt sie. Und das kann längst nicht jedes Unternehmen von sich behaupten.
Dieser Beitrag ist zuerst im enorm Magazin (Ausgabe 6/2017) erschienen. Er wurde ermöglicht durch ein „Schöpflin-Stipendium für lösungsorientierten Journalismus”. Die Schöpflin-Stipendien werden von der Noah Foundation gemeinsam mit der Schöpflin Stiftung vergeben.