Eine Woche vor der Bundestagswahl startet ein Team aus Ehrenamtlern eine Bus-Tour, um für eine bunte Gesellschaft zu werben und die tägliche Filterblase platzen zu lassen
Wann hast du das letzte Mal mit jemandem gesprochen, der komplett andere Ansichten vertritt, als du selbst? 15 Aktivisten aus Berlin wollen dieser Frage nachgehen. Dazu machen sie sich eine Woche vor der Bundestagswahl mit einem roten Doppeldeckerbus auf den Weg zu sechs verschiedenen Orten. Ihr Ziel ist es, sowohl den eigenen Horizont als auch den vieler anderer zu erweitern und die eigene Filterblase zu verlassen.
Vom 5. bis 17. September 2017 ist der rote Bus Treffpunkt für Bürgernähe. Statt Politiker zum Volk sprechen Bürger zu Bürgern, hören zu und erreichen Protestwähler und Politikverdrossene. Der Bus gehört dem von Stella Bauhaus gegründeten Verein Linie94. Der Verein wird unterstützt vom Social Impact Lab in Berlin und erhält im Rahmen eines Stipendiums ein individuelles Coaching, um zahlreiche Projekte für soziale Durchmischung, in erster Linie in Schulen, zu realisieren. Damit diese Projekte von Erfolg gekrönt sind, ist der rote Doppeldecker entsprechend ausgerüstet. Mit einer Küche, dem großen Esstisch und Platz für 54 Passagiere ausgestattet, bietet er die besten Voraussetzungen, um auf Tour bunt gemischte Truppen zusammen zu bringen.
Aktionen mit Austausch auf Augenhöhe
Und er sorgt für Aufmerksamkeit und damit erfahrungsgemäß für neugierige Blicke. Doch dabei soll es natürlich nicht bleiben. Dafür starten die Teammitglieder vom Bus der Begegnungen verschiedene Aktionen, gehen direkt auf die Menschen zu und erklären, warum sie überhaupt hier sind. Durch gemeinsames Kochen, Essen und Kaffee trinken kommen sie in Kontakt, können sich auf Augenhöhe über politische Themen austauschen und so vielleicht unkonventionelle Begegnungen machen: „Wir möchten zuhören und herausfinden, was die Ängste und Wünsche eines jeden sind“, sagt Julia Hübner als Teil des Teams über ihre Idee.
Und sie wollen über Meinungen diskutieren, mit denen man in seiner alltäglichen Umgebung kaum konfrontiert würde. Vor Ort trägt das Team eine Art Aktionskoffer bei sich, unter anderem mit Eye-Contact-Experimenten, Werte-Interviews und einer Wand der Wünsche und Hoffnungen. Mit dem Austausch auf Augenhöhe und gezielten Fragen regen sie dazu an, sich über die Bundestagswahl und die eigenen Werte Gedanken zu machen. Bereits im Vorhinein animieren sie gezielt Schulklassen und lokale Initiativen, vorbei zu kommen.
„Wir sind selbst in einer Filter-Bubble“
Seinen Trip und seine Erfahrungen dokumentiert das Team, indem es Menschen direkt vor Ort interviewt, Porträts der gemeinsamen Gespräche filmt und per Facebook-Livestream die Teammitglieder in einem Videotagebuch berichten lässt. „Was habe ich heute erlebt, was war meine besondere Erkenntnis, was möchte ich als Learning mit anderen teilen?“, das sind die Fragen, die sich Julia Hübner und die anderen stellen und durch die sie auch online so viele Menschen wie möglich mit ihrer Aktion erreichen wollen.
Beruflich kommen die knapp 15 ehrenamtlichen Teammitglieder aus verschiedenen Richtungen. Was Bildungsgrad, Einkommen und vor allem die politischen Ansichten betrifft, sind sie sich allerdings ähnlich. Hübner sagt selbst: „Wir sind in einer Filter-Bubble – und wollen diese verlassen“.
Ein Netzwerk mit gemeinsamer Vision
Der Startschuss für den Bus der Begegnungen kam durch Mitglieder der Berliner Initiative mit dem vielversprechenden Namen „Get engaged“, die sich in diesem Wahljahr das Ziel setzen, ihren Impact zu vergrößern. Mit der Zeit schlossen sich immer mehr Organisationen wie die „Salaam Schalom Initiative“ oder „Kleiner Fünf“ an. Ein ganzes Netzwerk aus Initiativen ist entstanden, die in diesen Tagen die gleiche Idee verfolgen: Gemeinsamkeiten herausstellen, statt Dingen, die uns trennen und die Menschen in Deutschland anregen, sich zu gesellschaftspolitischen Themen eine Meinung zu bilden. Finanziert wird der Trip durch die Crowd – die Kampagne wurde bereits erfolgreich abgeschlossen.
Und wie kommt man mit jemanden ins Gespräch, der komplett andere und radikale Ansichten vertritt? Was vor Ort passiert, wissen sie nicht, aber sprechen wollen sie mit jedem und sie machen sich vorab viele Gedanken und Schulungen, wie sie das angehen. „Wir sind keine Sozialromantiker*innen, uns ist durchaus bewusst, dass wir auf der Reise auch ernste Gespräche haben werden.“ Was am Ende dabei herauskommt, weiß niemand. Es ist ein Sozialexperiment, um sich für eine offene, pluralistische und vor allem teilhabende Gesellschaft einzusetzen.
Die Route des Doppeldeckers hat allerdings einen Haken, denn die sechs Stopps begrenzen sich auf Dörfer und Städte in Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Brandenburg. Das soll allerdings kein politisches Zeichen setzen, sondern hat vielmehr pragmatische Gründe: Es ist die einzige sinnvolle Strecke, die der 60 Stundenkilometer schnelle Oldtimer-Bus in einer Woche zurücklegen kann.