Prof. Dr. Gerald Hüther ist einer der bekanntesten deutschen Neurologen, seine Bücher zum Schulsystem sind Bestseller. Beim EduAction Bildungsgipfel 2018 wird er über Würde sprechen: Was bedeutet Würde im Zeitalter der Digitalisierung? Wie lässt sich die Menschenwürde wirksam schützen und entwickeln? Wir haben vorab drei Fragen dazu gestellt

1. Herr Professor Hüther, wie lässt sich Würde aus der Sicht der Hirnforschung beschreiben?

Würde ist ja zunächst nur ein Begriff. Den haben Menschen entwickelt, um das auszudrücken, was unser eigentliches Menschsein ausmacht. Die Verfasser des Grundgesetzes sind davon ausgegangen, dass jedem Menschen eine eigene Würde innewohnt, die ihm vom Schöpfergott verliehen worden ist und die deshalb unantastbar ist. Das hat zunächst nichts mit Neurobiologie, sondern eher mit einem gesellschaftlichen Konsens zu tun, auf den man sich einigen oder an den man glauben kann. Anders ist es allerdings mit der Vorstellung oder dem Bewusstsein seiner eigenen Würde. Das ist nicht gottgegeben oder in den Genen angelegt, das kann ein Mensch nur im Lauf seines Lebens selbst herausbilden und zu einem zentralen Aspekt seines jeweiligen Selbstbildes machen. Und diese individuelle Vorstellung, dieses Bewusstsein seiner eigenen Würde wird dann auch im Gehirn, im präfrontalen Kortex der betreffenden Person, in Form spezifischer neuronaler Netzwerkstrukturen verankert. Dieses innere Bild davon, was für ein Mensch man sein möchte, wirkt dann als Metakonzept, an dem eine Person ihr Denken, Fühlen und Handeln ausrichtet.

2. Kann man „Würde-Kompetenz“ in der Schule lernen? Wie viel ihres Vermittlungs-Potenziales schöpfen die Schulen bisher aus?

Es gibt keine „Würde-Kompetenz“, sondern nur ein mehr oder weniger ausgeprägtes Bewusstsein seiner eigene Würde. Und um das herausbilden zu können, brauchen Heranwachsende entsprechende Erfahrungen, die ihnen deutlich machen, dass sie, so wie sie sind, wertvoll und bedeutsam sind. Sie müssten erleben können, dass sie als Person, als Subjekt ernst genommen und nicht wie Objekte behandelt werden, also nicht zu Objekten der Vorstellungen und Absichten, der Belehrungen und Bewertungen, der Maßnahmen und Anordnungen von anderen Menschen, also beispielsweise der Lehrer in der Schule, aber auch von Eltern und Mitschülern gemacht werden.

Das gelingt in Einzelfällen, aber unser aus dem vorigen Jahrhundert stammendes Schulsystem mit den dort herrschenden strukturellen Vorgaben und den tradierten Unterrichtsformen und Bewertungen trägt als Ganzes wenig dazu bei, dass die Schüler eine Vorstellung und ein Bewusstsein ihrer eigenen Würde herausbilden können. Und das führt dazu, dass sich dann auch nur wenige Heranwachsende ihrer eigenen Würde bewusst werden und später als Erwachsene darauf achten, dass sie nicht verletzt wird. Wer sich seiner eigenen Würde bewusst geworden ist, benutzt andere Personen nicht mehr als Objekte bei der Verfolgung seiner eigenen Absichten und Ziele. Der stellt sich anderen auch nicht als Objekt zur Verfügung und ist daher nicht mehr verführbar, von Werbestrategen und politischen Ideologen nicht, aber auch nicht von Apple, Facebook, Google & Co.

3. Denken wir an die Gesellschaft jenseits der Schule: Welche Chancen bieten da „Würde-Kompassgruppen“ und was müssen wir uns genau darunter vorstellen?

Die Vorstellung und das Bewusstsein seiner eigenen Würde wirkt wie ein innerer Kompass, an dem Menschen ihr Leben und ihr Zusammenleben mit anderen so gestalten, das es für sie selbst wie auch für alle anderen erfüllend und fruchtbar ist, also eine Entfaltung der in uns Menschen angelegten Potentiale ermöglicht. Die Initiative www.wuerdekompass.de der Akademie für Potentialentfaltung soll interessierten Personen Gelegenheit bieten, sich zusammenzuschließen um ihr Bewusstsein für ihre eigene Würde zu schärfen und dazu beizutragen, dass sich auch andere Menschen ihrer Würde bewusst werden. Es ist also der Versuch, dieses Thema der eigenen Würde in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken und den Bürgern vor Ort und überall dort, wo sie als handelnde Subjekte unterwegs sind, zu helfen, ihr Leben und ihr Zusammenleben so zu gestalten, das dabei weder ihre eigene Würde noch die anderer Menschen verletzt wird.

Prof. Dr. Gerald Hüther ist Impulsgeber beim EduAction Bildungsgipfel 2018 sowie bei der Vor-Konferenz EduHealth Summit. Tickets für den Bildungsgipfel und weitere Infos gibt es hier.