Andreas Schleicher ist Direktor des Direktorats für Bildung und „Erfinder“ der PISA-Studien. Damit ist er für das Thema Zukunftskompetenzen gleichsam der Experte schlechthin. Auf dem EduAction Bildungsgipfel 2018 wird er als Impulsgeber über den weltweiten Umbruch in Bildung und Fortbildung sprechen. Hier gibt er vorab einige Einblicke

Herr Professor Schleicher, Sie fordern: „Wir brauchen den Wandel von einer Welt der Silos, in denen Wissen eingelagert wird und schnell an Wert verliert, hin zu kommunikativen und kollaborativen Kompetenzen.“ Gleichzeitig kritisieren Sie, dass man versuche, die Lehrpläne noch weiter zu verdichten, am besten unter Einführung zusätzlicher Pakete an Fachwissen. Warum fällt es der Politik so schwer, das Problem zu erkennen und umzusteuern?

Es ist immer leichter, dem Lehrplan etwas hinzuzufügen, als ihn zu verschlanken. Als Eltern sind wir die ersten, die sich beschweren, wenn unsere Kinder etwas nicht mehr lernen, das für uns einmal sehr wichtig war. Letztlich ist es oft eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern und Regierungsbeamten, die bestimmen, was Millionen von Schülern lernen. Oft verteidigen diese den Umfang und die Integrität ihrer Disziplin, anstatt zu überlegen, was die Schüler wissen und können müssen, um in der Welt von morgen erfolgreich zu sein. Beim Studium der nationalen Lehrpläne für Mathematik für die Entwicklung des PISA-Tests habe ich mich oft gefragt, warum Lehrpläne in Deutschland so viel Gewicht auf Aspekte wie Trigonometrie und Infinitesimalrechnung legen.

„So werden junge Menschen Gefangene der Vergangenheit“

Die Antwort finden wir nicht in der internen Struktur der Mathematik, oder der Art und Weise, wie Schüler mathematisch denken lernen, oder wie Mathematik in der heutigen Welt Anwendung findet. Die Antwort liegt darin, dass derartige Verfahren vor Generationen von Menschen genutzt wurden, um die Größe ihrer Felder zu messen oder Berechnungen durchzuführen, die seit langem digitalisiert wurden.

Da die Lernzeit der Schüler begrenzt ist und es uns selten gelingt, Dinge aus dem Lehrplan herauszunehmen, werden junge Menschen dadurch Gefangene der Vergangenheit und Schulen verlieren die Möglichkeit, wertvolles Wissen, Fähigkeiten und Charaktereigenschaften zu entwickeln, die für Schüler in der Welt von morgen wichtig sein werden. Dies alles unterstreicht, wie wichtig es ist, die besten Köpfe im Land zu gewinnen – führende Fachexperten, aber auch diejenigen, die verstehen, wie Schüler lernen, und diejenigen, die ein gutes Verständnis für die Anwendung von Wissen und Fähigkeiten in der heutigen Welt haben – um festzulegen und regelmäßig zu überprüfen, welche Themen in welcher Reihenfolge unterrichtet werden sollten.

Die Lehrpläne des 21. Jahrhunderts sollten sich durch Inhalte auszeichnen, die kognitive Aktivität auf hohem Niveau sichern, in denen es weniger darum geht, ob Schüler mathematische Gleichungen oder Definitionen wiedergeben können, sondern darum, ob sie wie ein Mathematiker denken können; in denen es weniger darum geht, wie viele Orte und Personen wir im Geschichtsunterricht lernen, sondern darum, ob wir verstehen wie sich das Narrativ einer Gesellschaft in der Geschichte entwickelt, und wie und warum dieses Narrativ in einer späteren Zeit seine Bedeutung verliert. Dazu brauchen Lehrkräfte Zeit und Raum, um weniger Stoff in größerer Tiefe zu vermitteln. Lehrpläne müssen den Disziplinen treu bleiben, aber gleichzeitig interdisziplinäres Lernen fördern, das heißt die Fähigkeit der Schüler stärken, Probleme aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.

„Lernen in relevanten und realistischen Kontexten: themenbezogen, problembasiert, projektbezogene“

Um Schülern zu helfen, sich mit unbekannten zukünftigen Problemen zu befassen, sollten sich die Lehrpläne auf Inhalte mit hohem Transferwert konzentrieren, das heißt Inhalte, die in einem Kontext erlernt und auf andere angewendet werden können. Und sie müssen Lernen in relevanten und realistischen Kontexten gestalten, und Lehrern helfen, themenbezogene, problembasierte und projektbezogene Ansätze zu nutzen, die Kollegen und Schüler in die Gestaltung der Unterrichtsinhalte einbeziehen.

Als Vorbilder dafür, welche Wirkung systemisch durchdachte Impulse aus der Zivilgesellschaft auf die Verbesserung und Kompetenzorientierung von Bildungssystemen haben können, führen Sie Orte wie Shanghai und Singapur an. Was haben sie besser gemacht als wir – und wie?

Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Bildungssysteme auf dem aufbauen, was uns die Gehirnforschung und Lernwissenschaft über die Art und Weise lehrt, wie Schüler lernen. Singapur bezieht dieses Wissen explizit in die Gestaltung von Unterrichtsinhalten ein: Mit dem Übergang von der Grundschule zur Sekundarstufe entwickeln sich die Unterrichtsinhalte von der Unterscheidung zwischen richtig und falsch, über das Verstehen von moralischer Integrität, bis hin zur Verantwortung, sich für das Recht einzusetzen. In ähnlicher Weise wird von den Lehrern erwartet, dass sie ihren Schülern helfen, eigene Stärken und Schwächen zu erkennen, an ihre Fähigkeiten glauben und auf Veränderungen aktiv zuzugehen.

„Ein Sportlehrer in Singapur muss sich nicht nur fragen, wie sportlich seine Schüler sind, sondern auch, wie sein Unterricht dazu beiträgt, bei den Schülern Verantwortung, Mut oder Selbstdisziplin zu entwickeln“

Von den Schülern wird erwartet, dass sie gemeinsam und erfolgreich im Team arbeiten und Empathie gegenüber ihren Mitschülern zeigen, und dass sie in der Lage sind, den Wert kultureller Vielfalt in ihre Arbeit einzubeziehen. Es wird erwartet, dass sie sich von lebhafter Neugier in der Grundschule, über Kreativität in der Sekundarstufe, bis zur aktiven Gestaltung von Innovationsprozessen im Tertiärbereich entwickeln. Dabei wird von den Lehrern erwartet, dass sie Schüler in die Lage versetzen, selbständig zu denken und sich selbstsicher auszudrücken, indem sie unterschiedliche Sichtweisen schätzen und effektiv kommunizieren, kritisch denken und überzeugend kommunizieren können. Um ein Beispiel zu geben, ein Sportlehrer in Singapur muss sich jeden Tag nicht nur fragen, wie sportlich seine Schüler sind, sondern ebenso, wie sein Unterricht dazu beiträgt, bei den Schülern Selbstverantwortung und Verantwortung für die Mitschüler, Mut oder Selbstdisziplin zu entwickeln.

Welche Länder oder Regionen können sonst noch als Vorbild für kompetenzorientierten Unterricht dienen?

Sie finden auch viele gute und interessante Beispiele in Europa, nehmen Sie den kompetenzorientierten und fächerübergreifenden Unterricht in Finnland, die vielfältige Schullandschaft in den Niederlanden, oder die Waldorf- oder IB-Schulen.

Prof. Dr. Andreas Schleicher ist Impulsgeber beim EduAction Bildungsgipfel 2018. Tickets für die Veranstaltung sowie weitere Infos gibt es hier.