Der Marburger Professor Jürgen Handke setzt auf ein neues Lehrkonzept, in dem Roboter mit helfen und Professoren zu Tutoren werden
Herr Handke, Sie benutzen in Ihren Vorlesungen Roboter …
Das ist schon nicht ganz richtig. Ich gebe keine Vorlesungen mehr. Inhalte zu vermitteln, die längst im Internet stehen, ist eine Verschwendung menschlicher Ressourcen. Deswegen ist die Vorlesung ein Auslaufmodell. Unser Konzept heißt „Inverted Classroom“. Das muss man verstehen, um überhaupt den Einsatz von Robotern nachvollziehen zu können.
Okay, wie funktioniert das?
Die Studierenden lernen bei diesem Konzept alle Inhalte online über eine Lernplattform, die gesamte Wissensvermittlung findet über das Internet statt. Überspitzt gesagt: Der Computer wird zum Lehrer. Anschließend findet die Inhaltsvertiefung in einem Seminar statt. Dort ist der Mensch wieder dabei, allerdings nicht in belehrender, sondern beratender Form, diese Veranstaltungen sind auch sehr interaktiv, da wird mal ein Quiz gemacht, mal spielerisch gelernt, mal diskutiert. Im Idealfall haben dabei alle Studierenden einen eigenen Tutor, was wir aber natürlich nicht leisten können. Da kam uns 2016 die Idee, gewisse niedere Assistenztätigkeiten von humanoiden Robotern erledigen zu lassen.
„In der Quizmaster-App übernimmt der Roboter den Hörsaal“
Wie kann man sich das mit den Robotern dann vorstellen?
Wir müssen zunächst einmal sogenannte Behaviours programmieren, also komplexe Verhaltensweisen, ähnlich wie Apps auf dem Smartphone. Eine unserer ersten ist die sogenannte Quizmaster-App. Dabei übernimmt der Roboter für eine gewisse Zeit den Hörsaal, stellt Fragen und überwacht die Antworten der Studierenden, gibt ihnen also Hinweise und kommentiert. Dadurch bekommen wir als Tutoren den Freiraum, während der Fragen schon die Kompetenzen der Studierenden zu fördern.
Wenn man alle Inhalte im Internet nachlesen kann: Was machen Sie dann mit den Studierenden in den Präsenzveranstaltungen?
Wir vertiefen zum einen Kompetenzen. In meinem Fachbereich, der Linguistik, heißt das beispielsweise, Vokale und Konsonanten zu erkennen und zu klassifizieren, Sätze zu analysieren, Sätze bildlich darzustellen, Wörter zu segmentieren oder Dialekte zu erforschen. Wir produzieren mit den Studierenden auch Videos. Wir können einfach Dinge machen, die in einer klassischen Vorlesung nicht möglich sind, weil dort die Zeit für die reine Wissensvermittlung gebraucht wird. Die Studierenden kommen im Gegensatz dazu schon mit Vorwissen in unsere Veranstaltungen und dort üben sie – mit mir, mit Tutoren und eben in der jetzigen Testphase mit humanoiden Robotern.
„Habt ihr auch an die Aussprache gedacht?“
Haben Sie dafür auch ein Beispiel?
Wir haben das vergangenes Jahr im Oktober einmal mit Erstsemestern gemacht, die noch nichts über Linguistik gehört hatten. Da hat der Roboter die Frage gestellt, wie viele Vokale die englische Sprache denn hat. Uns war klar, die meisten würden fünf aufschreiben. Da hat der Roboter die Frage gestellt, wie viele Vokale die englische Sprache hat. Uns war klar, die meisten würden fünf aufschreiben. Da hat der Roboter aber gesagt: Habt ihr auch an die Aussprache gedacht? Da kamen alle ins Stolpern. Und da haben wir – also ich mit einigen Tutoren – eingegriffen und die Studierenden beraten. Und obwohl sie jederzeit das Internet nutzen können, kam trotzdem kaum jemand auf die letztlich richtige Antwort, die der Roboter am Ende gegeben hat: 20.
Ist denn dieser Inverted Classroom für Sie eine Ergänzung zu klassischen Vorlesung oder wirklich die bessere Variante von Unterricht an Hochschulen?
Es ist für mich die einzige Variante, die im 21. Jahrhundert sinnvoll ist und eine gute Lehre darstellt. Die klassische Vorlesung – dass sich vorne jemand als Gralshüter des Herrschaftswissens hinstellt und den Studierenden etwas mitteilt, was sie in Sekundenschnelle über Google herausfinden können – brauchen wir nun wirklich nicht mehr. Etwas anderes ist die Ringvorlesung, wo von Woche zu Woche unterschiedliche Menschen Vorträge halten.
„Roboter allein wären zu langweilig“
Können Sie sich denn vorstellen, dass solche Roboter in einigen Jahren auch mehr und komplexere Aufgaben übernehmen?
Ja, kann ich, aber sie werden immer nur Aufgaben übernehmen, die Menschen mehr Freiräume geben. Wir arbeiten derzeit beispielsweise an einer Applikation, die dem Roboter Zugang auf die Daten zum Lernfortschritt der Kursteilnehmer gibt. Er kann dann ein persönliches und personalisiertes Beratungsgespräch mit dem Studierenden führen. In einer klassischen Vorlesung einen Roboter hinzustellen, halte ich derzeit aber für völlig absurd, da würden die Studierenden nach zwei Minuten einschlafen.
Wieso?
Das hat vor allem zwei Gründe: Zum einen verfügt der Roboter gar nicht über die Sensorik, um die Reaktion seines Publikums aufzunehmen – um entsprechend darauf reagieren zu können. Die zweite Sache ist, dass der Roboter nur auf einem Fleck steht. Er bewegt sich vielleicht ein bisschen hin und her, ist aber längst noch nicht so emotional und mobil, wie ein Mensch das sein kann. Gerade die Sprache ist da noch ein riesiges Problem. Wir staunen zwar, was Siri und Alexa schon alles können, vergessen dabei aber, was sie noch nicht können, man denke nur an Metaphern. Aber klar, wenn man noch in den Szenarien des 20. Jahrhunderts denkt, kann man auch heute schon Roboter in einen Hörsaal stellen und einfach drei Stunden erzählen lassen. Aber wie gesagt: Dann schlafen die Studierenden schon nach zwei Minuten ein und nicht erst nach zehn, wie in einer herkömmlichen Vorlesung.
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