Christian Spannagel ist Informatiker und Professor für Mathematik und Mathematikdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Beim EduAction Bildungsgipfel 2018 spricht er über den Transfer von Bildungsinnovationen aus der Forschung in regionale Lehreinrichtungen, Unternehmen und die Zivilgesellschaft. Im Interview skizziert er vorab, vor welchen Herausforderungen wir dabei stehen
Herr Professor Spannagel, in der Forschung und in Praxisprojekten stößt man immer wieder auf spannende Bildungsinnovationen. Oft hat man aber das Gefühle, dass es lange dauert, bis solche Ansätze auch in Kitas, Schulen und Universitäten ankommen. Woran liegt das? Was sind die größten Hindernisse?
Das hat vielfältige Gründe. Pädagoginnen und Pädagogen brauchen Zeit, um Bildungsinnovationen zu sichten, auf ihre eigenen Kontexte anzupassen und vielleicht in mehreren Versuchen an ihre eigenen Wünsche und Ziele anzupassen. Diese Zeit haben sie oftmals nicht. Lehrerinnen und Lehrer müssen bei einem vollen Deputat ziemlich viel Unterricht in der Woche halten; darüber hinaus haben sie Aufgaben, die über den eigentlichen Unterricht hinaus gehen.
Neue Anforderungen wie etwa Inklusion belasten sie zusätzlich. Bildungsinnovationen wie beispielsweise inklusive Unterrichtsmethoden wären zwar vielleicht eine Unterstützung und Hilfe in ihrem komplexen Arbeitsalltag, sie haben aber oft das Gefühl, sich damit nicht auch noch beschäftigen zu können. Ähnlich ist es mit Digitalisierung: Digitale Medien bietet zahlreiche didaktische und methodische Innovationen, die eine Hilfe beim Unterrichten oder in der Organisation der Klasse sein können. Doch fehlt sowohl objektiv als auch in der subjektiven Wahrnehmung die Zeit, sich in den Einsatz solcher Medien einzuarbeiten.
„Es fehlt an Zeit, technischer Ausstattung und geschultem Personal“
Wenn wir beim Thema Digitalisierung sind: Für Bildungsinnovationen benötigen Pädagoginnen und Pädagogen auch eine entsprechende technische oder materielle Ausstattung. Diese liegt oft nicht oder in nicht zufriedenstellender Weise vor. Die Computerräume sind in der Regel veraltet. Für einen modernen Unterricht mit digitalen Medien bräuchten die Schülerinnen und Schüler allerdings eigene Geräte wie beispielsweise Tablets zur ständigen Verfügbarkeit an ihrem Platz. Die unbefriedigende technische Ausstattung erschwert also noch zusätzlich den Einsatz neuer Medien im Unterricht. Darüber hinaus haben Schulen kein technisches Personal, das sich um die Wartung und Administration der Geräte und des Schulnetzwerks kümmert. Dies macht oft eine Lehrerin oder ein Lehrer für einen geringen Deputatsnachlass. Das ist erfahrungsgemäß keine besonders gute Lösung.
„Routine führt oft dazu, dass Lehrende zu lange an unwirksamen Methoden festhalten“
Ein weiterer Grund für den mangelnden Einsatz von Bildungsinnovationen ist Routine. Werfen wir einen Blick in die Hochschule: Vorlesungen werden so gehalten, wie sie schon immer gehalten werden. Auch die erfahrungsgemäß wenig effektiven Referatsseminare halten sich hartnäckig: Referatsthemen werden zu Beginn eines Semesters an die Studierenden verteilt. Jede Woche hält dann eine Studentin oder ein Student ein Referat – und die anderen schlafen, bis sie selbst an der Reihe sind. Trotzdem habe ich oft erlebt, dass Lehrende an Hochschulen immer wieder unreflektiert diese seit gefühlten Ewigkeiten etablierten Lehrformen wählen.
Bitte nicht falsch verstehen: Auch Vorlesungen und Referatsseminare können, wenn sie gut gestaltet werden, sinnvolle Lehrformen sein. Jedoch sollten Methoden bewusst und begründet gewählt werden, insbesondere weil sie die Kompetenzen fördern, die im Modulhandbuch für die jeweilige Lehrveranstaltung vorgesehen sind. Dabei kann jede Dozentin und jeder Dozent in seinen Lehrveranstaltungen mit entsprechender Neugier und Experimentierfreude selbst Bildungsinnovationen entwickeln, oder eben innovative Methoden anderer an den eigenen Kontext anpassen.
„Die Lehre hat an Hochschulen oft nicht den gleichen Stellenwert wie die Forschung“
Ein letzter Grund ist mangelnde Fortbildung. Es gibt zwar Fortbildungsangebote, diese werden aber aus unterschiedlichen Gründen nicht genutzt. Die oben erwähnte fehlende Zeit ist hierfür ein Grund. Darüber hinaus hat bei Lehrenden an Hochschulen die Lehre oftmals keinen so großen Stellenwert wie die Forschung, und eine Fortbildung wird dann nicht für notwendig erachtet. In dieser Zeit kann man ja schließlich einen neuen wissenschaftlichen Artikel schreiben! Es ist also auch eine Frage der persönlichen Prioritätensetzung. Und diese kann man politisch oder innerhalb der Organisation durch Rahmenbedingungen wie beispielsweise Anreizsysteme steuern.
Viele warten bei Bildungsreformen lange auf den Staat; bisweilen auch vergeblich. Welchen Beitrag kann demgegenüber die Zivilgesellschaft für den Fortschritt der Bildung leisten?
Die Politik setzt die Rahmenbedingungen für viele Bildungsbereiche, etwa für die Schule und die Hochschule. Insofern ist sie natürlich ein wichtiger Player bei der Weiterentwicklung unserer Bildungslandschaft. Dabei würde man sich allerdings wünschen, dass bildungswissenschaftliche Erkenntnisse stärker in den politischen Diskurs einfließen. Politik funktioniert aber anders: Es spielen natürlich nicht nur wissenschafliche Argumente eine Rolle, sondern zum Beispiel auch finanzielle und naturgemäß eben auch (partei)politische.
Nichtsdestotrotz setzt Politik nur den Rahmen. Innerhalb des Rahmens ist so vieles möglich! Bildungsakteurinnen und Bildungsakteure können und sollten den Spielraum nutzen, um Bildungssitutationen innovativ mit Leben zu füllen und konkret auszugestalten. Dies ist letztlich tägliche Aufgabe von Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern sowie Dozentinnen und Dozenten, mit all den Schwierigkeiten, die oben genannt wurden: hier können und sollten die Rahmenbedingungen unbedingt verbessert werden!
„Letztlich hat jede und jeder die Möglichkeit, in seinem eigenen Umfeld Bildung zu gestalten, und das bringt auch die Verantwortung mit sich, das tatsächlich zu tun“
Und wenn Sie die Zivilgesellschaft ansprechen: Auch hier gibt es so viele Möglichkeiten, im Bildungsbereich innovativ tätig zu werden. Und das wird auch gemacht! Stiftungen etwa setzen vielfältige Schwerpunkte und fördern Bildungsprojekte und Bildungsinnovationen. (Ehrenamtliche)Mitglieder und Mitwirkende in Vereinen, in Kirchen und in Kultureinrichtungen leisten täglich genau diese Arbeit – und das sind schließlich auch Einrichtungen, in denen sich Menschen bilden. Zum Unternehmensbereich: Die Fort- und Weiterbildung am Arbeitsplatz sind ebenso Situationen, in denen sich Menschen – in diesem Falle Beschäftigte – hinsichtlich ihrer beruflichen und persönlichen Kompetenzen weiterentwickeln, und letztlich tun sie dies tagtäglich während ihrer Tätigkeit („learning on the job“). Und nicht zuletzt die Medien wie Zeitungen oder Fernsehen: Auch sie wirken bildend. Man kann also sehen: Letztlich hat jede und jeder die Möglichkeit, in seinem eigenen Umfeld Bildung zu gestalten, und das bringt auch in gewisser Weise die Verantwortung mit sich, das tatsächlich zu tun. Nicht zuletzt für sich selbst.
Welche sind aus Ihrer Sicht gute Beispiele für die gelungene Zusammenarbeit von Bildungsforschung, Unternehmen, Vereinen und Kultur?
Ein gelungenes Beispiel sind die Aktivitäten des Masterstudiengangs „E-Learning und Medienbildung“ an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Seit Jahren arbeiten hier Studierende in Forschungs- und Anwendungsprojekten mit außerhochschulischen Partnern wie etwa Unternehmen zusammen. Studentische Teams konzipieren hier im betrieblichen Umfeld Lernumgebungen oder beforschen die Wirkung von E-Learning-Maßnahmen und bringen dabei Bildungsinnovationen aus dem wissenschaftlichen Bereich in die Unternehmen.
Die Pädagogische Hochschule Heidelberg ist eine bildungswissenschaftliche Hochschule universitären Profils. In vielen Forschungsprojekten an der Hochschule werden Bildungsinnovationen entwickelt, die – analog zum Beispiel oben – auch über den schulischen und hochschulischen Bereich hinaus eine echte Bildungsinnovation in Unternehmen, Vereinen, Kultureinrichtungen und Kommunen sein können. Diese bündeln wir zurzeit in unserem Projekt TRANSFER TOGETHER, das wir gemeinsam mit der Metropolregion Rhein-Neckar GmbH durchführen und das im Rahmen des Förderprogramms „Innovative Hochschule“ von Bund und Ländern gefördert wird.
Um nur einige Beispiele für Transfer von Bildungsinnovationen im Projekt zu nennen: Viele gesundheitliche Probleme am Arbeitsplatz entstehen durch zu lange Sitzzeiten. In unserem Teilprojekt „Prävention und Gesundheitsförderung“ werden Methoden zur Reduktion von zu langen Sitzzeiten auf unterschiedliche Kontexte von Unternehmen und anderen Partnern in der Region übertragen. So kann beispielsweise die Sitzzeit durch ganz einfache Routinen unterbrochen werden: Man kann sich etwa zur Regel machen, beim Telefonieren immer zu stehen. Darüber hinaus können klassische Sitzmeetings in „Walking Meetings“ überführt werden, oder es wird die Büroausstattung durch entsprechende Möbel wie Sitz-Steh-Tische gesundheitsförderlicher gestaltet.
Im Teilprojekt „Interkulturelle Bildung“ wird unter anderem ausgearbeitet, wie man diskriminierendem Verhalten in unterschiedlichen Kontexten entgegenwirken kann, und wie sich Unternehmen auf die Aufnahme von Geflüchteten in Ausbildung und Beruf vorbereiten können. So werden gemeinsam mit Unternehmen, kommunalen und freien Trägern sowie gemeinnützigen Organisationen Maßnahmen und Methoden entwickelt und weiterentwickelt, die dabei helfen, Geflüchtete in Betriebe zu integrieren. Das geschieht auf der Grundlage von an der PH Heidelberg erstellten Leitfäden, Toolkits, Evaluationen vorangegangener Projekte und Good-Practice-Übersichten. So wird aktuell beispielsweise eine Kommune bei der Vorbereitung eines Arbeitsvermittlungsprojekts unterstützt und die Evaluation der bisherigen Maßnahmen eines freien Trägers konzipiert.
Ein weiteres Schwerpunktthema ist Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Auch hier arbeiten wir mit unterschiedlichsten Partnern in der Region. Und im MINT-Teilprojekt werden regionale Angebote für Kinder und Jugendliche im Bereich MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) inhaltlich miteinander vernetzt, etwa Labore von Unternehmen, Science Center und Hackerspaces.
Über alle Ziele und Inhalte des Projekts TRANSFER TOGETHER kann man sich auf der Projektwebsite, dem Projektblog sowie auf Facebook und Twitter informieren.
Prof. Dr. Christian Spannagel ist Impulsgeber beim EduAction Bildungsgipfel 2018. Tickets für die Veranstaltung und weitere Infos gibt es hier.