Wie bringt man jungen Menschen die Geschichte des Holocaust näher? Und wie kann dafür gesorgt werden, dass die Überlebensgeschichten der Zeitzeugen nicht in Vergessenheit geraten? Diese Fragen versucht das Team des Heimatsucher e.V. mit seinem Zweitzeugen-Konzept zu beantworten

Für ein Uniprojekt reisten Sarah Hüttenberend und Anna Damm nach Israel. Ehrfürchtig davor, was sie erwarten würde, machten sie sich auf die Suche nach den Menschen, hinter den nüchternen, großen Zahlen zum Thema Holocaust. Was sie nicht erwarteten: die Geschichten berührten sie so nachhaltig, dass sie den Abschluss des Studiums überdauerten und zu einem wichtigen Zeitzeugen-Projekt wurden.

Begeistert erzählten sie die Geschichten – genauso wie sie ihnen erzählt wurden – in ihrem nahen Umfeld weiter und stellten fest, dass die Zeitzeugen nicht anwesend sein müssen, damit ihre Geschichten die Menschen mitreißen. Es war die Geburtsstunde des heutigen Vereins Heimatsucher e.V. Seit 2010 haben über 100 Ehrenamtliche zusammengefunden, wurden 28 Überlebende interviewt, fotografiert und ihre Geschichten 5.000 Schülern erzählt, Ausstellungen veranstaltet, Magazine und ein Buch publiziert.

Zweitzeuge werden und die Geschichten vor dem Vergessen bewahren

All das für ihr übergeordnetes Ziel: die Überlebenden nicht verstummen lassen, ihre Lebensgeschichten weitertragen und sogenannte „Zweitzeugen“ schaffen. Zweitzeugen werden die jungen Menschen, die die Überlebensgeschichten, nach dem Vortrag der Heimatsucher, weitererzählen und damit aktiv gegen das Vergessen und gegen Antisemitismus kämpfen.

Die Projekte in den Schulen gestalten sie ganz unterschiedlich, je nach Jahrgangsstufe, Vorwissen und der Zeit, die ihnen zur Verfügung steht. Schon die Kleinsten dürfen mithören: die Veranstaltungen beginnen bei den Schülern der vierten Klasse. Zu Beginn erzählen die Heimatsucher von der Schulzeit der Zeitzeugen – dadurch können die Kinder die für sie weit entfernte Zeit besser begreifen und bekommen die Möglichkeit sich mit ihnen zu identifizieren.

Auch der weitere Lebensverlauf wird nicht so theoretisch behandelt wie im Unterricht: „Wir erzählen zum Beispiel, dass die Freunde von Erna nicht mehr mit ihr spielen wollten. Sie haben zuhause gehört, dass Erna nicht mehr zu Besuch kommen darf, weil sie Jüdin ist“, berichtet Sarah Hüttenberend, eine der Gründerinnen von Heimatsucher. Besonders wichtig ist es ihr, dass auch von der Zeit nach dem Holocaust erzählt wird, um nicht in der Hoffnungslosigkeit stecken zu bleiben. „Wenn man davon erzählt, wie die Menschen sich nach dem Krieg neu verliebt, zusammen eine Familie aufgebaut und wieder ein Land gefunden haben, in dem sie gerne leben, dann macht das gleichzeitig sehr viel Mut und hilft aus dieser Zeit ins Heute zu kommen.“

Die Kinder hinterfragen die Strukturen des Antisemitismus und teilen ihre eigenen Erfahrungen zur Diskriminierung in der Gegenwart. Zum Schluss dürfen sie Briefe an die Überlebenden schreiben, die immer auch an diese verschickt werden. Besonders die Jüngeren nehmen dieses Angebot gerne an, schreiben treffende Worte wie „Du bist toll!“ und zeigen, wie einfach Nächstenliebe und Toleranz sein kann. Das findet auch Hüttenberend: „Wenn du mich nach einer Sache fragst, die mich am meisten berührt hat, dann sind das immer diese Briefe und die berührenden Reaktionen der Überlebenden darauf.”

Von Freunden zum Unternehmen mit dem AndersGründer Stipendium

Als die Heimatsucher bereits auf fünf Jahre Erfahrung in der praktischen Arbeit zurückblicken konnten, merkten sie, dass sie inzwischen stark gewachsen waren und dafür eine Organisationsform benötigten. „Es ist toll, viele Menschen zu haben, die für eine Sache brennen, aber du kannst nur dann wirklich etwas gemeinsam und effektiv bewirken, wenn du weißt wo du hin willst und dir Ziele setzt”, berichtet die Gründerin.

An dieser Stelle kam für sie das AndersGründer Stipendium des Social Impact Lab ins Spiel: Sie halfen dem Verein dabei von einer Freundesebene auf eine Unternehmensebene zu gelangen: mit professioneller Begleitung, Unterstützung und Know-How. Dass sie ein tolles Projekt haben, wüssten sie schon, so Hüttenberend, aber dass sie sich auch trauen dürften für ihre Arbeit Geld zu verlangen, brachte ein neues Selbstwertgefühl und ein Umdenken in das Team.

Aufgebaut sind die Heimatsucher inzwischen wie eine klassische Organisation und setzen sich aus acht Teams zusammen: Neben dem Bildungsteam und der Zeitzeugenarbeit gibt es die typischen Bereiche Kommunikation, Organisation und interne Entwicklung. Bisher ist nur eine Mitarbeiterin hauptamtlich beschäftigt, aber auch erste Mini-Job-Stellen werden vergeben. Bei der Finanzierung haben sie sich für eine Mischform entschieden und beziehen ihre Mittel aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden, Einnahmen durch ihre Angebote, Stiftungen, Beiträgen von Unternehmen sowie öffentlichen Kooperationen.

Ihre Vision formuliert Sarah Hüttenberend ganz klar: „Jede Schülerin und jeder Schüler soll die Möglichkeit haben über so eine persönliche Geschichte Zugang zu der Zeit zu bekommen, daraus auch lernen und selbst zum Zweitzeugen werden.” Sie ist sich sicher, wenn sie Schritt für Schritt ihre Ziele weiterverfolgen und größer denken, dann wird ihnen das auch gelingen.