Straffer Lehrplan, strenger Stundenplan – im Schulalltag bleibt selten Raum für individuelle Begegnungen zwischen Schülern und Lehrern. Waldorfpädagoge Henning Kullak-Ublick nimmt sich jeden Schultag die Zeit und begrüßt seine Schüler einzeln per Handschlag. Ein Gespräch über Achtsamkeit 

Herr Kullak-Ublick, Sie schütteln vor dem Unterricht jedem ihrer Schüler erst einmal die Hand. Welcher Gedanke steckt da dahinter?

An Waldorfschulen ist es wichtig, dass sich jedes Kind gesehen fühlt. Wenn die Kinder morgens kommen, dann geht es erstmal darum, sich gegenseitig wahrzunehmen. Da ist das Händeschütteln ein Teil davon. Aber genauso wichtig ist, dass man sich in die Augen sieht und einen Eindruck von dem Kind bekommt. Ist der Schüler heute blass, hat er kalte Hände, rote Backen? Wenn man sich nach der Schule verabschiedet, auch per Handschlag, dann sieht man das Kind wieder. Dann kann man erkennen, wie der Unterricht gelaufen ist. Wenn die Schüler jetzt alle blass sind, dann habe ich garantiert etwas falsch gemacht. Wenn man Kinder nur im Kopf anspricht, dann werden sie nämlich blass. Wenn sie aber aktiv werden können, zwischendrin Lachen dürfen, dann haben sie nach der Stunde warme Hände.

Henning Kullak-Ublick (*1955) ist Waldorflehrer und Sprecher des Bundes der Freien Waldorfschulen. Außerdem koordiniert er die internationalen Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum der Waldorfpädagogik. Foto: Bund der Freien Waldorfschulen

Wie darf man sich denn das vorstellen? Ist das eher ein förmliches Händeschütteln oder mehr ein jugendlicher Faust-an-Faust-Check?

Also ich mache das mit einem ganz normalen Handschlag. Ich habe aber in den USA eine Kollegin, eine Schulleiterin, die jeden mit High-Five begrüßt. Das macht jeder Lehrer, wie er es für richtig hält. Ich habe immer den altmodischen Handschlag bevorzugt.

 

Wenn sie die Schüler auf diese Weise verabschieden und begrüßen ­–  wie viele Hände schütteln Sie denn dann an einem normalen Schultag?

Das hängt natürlich von der Klassengröße ab. In meiner letzten Klasse hatte ich 34 Kinder. Das war eine große Klasse, aber ich habe natürlich allen 34 die Hand gegeben. Und das eben zwei Mal, man schüttelt also schon viele Hände. Das dauert dann ein paar Minuten bis man alle durch hat, man kommt ja auch zum Reden. Gerade beim Rausgehen wollen die Kinder noch alles Mögliche erzählen.

„Man braucht Strategien, wie man wirklich jedes Kind sieht“

Sollten Lehrer an allen Schulen das so machen wie Sie?

Ich kann es auf jeden Fall weiterempfehlen, das ist eine wunderbare Methode. Wenn man mit vielen Kindern zusammen in der Klasse ist, braucht man Strategien, wie man wirklich jedes Kind sieht. Ich setze mich auch ­ – wie viele meiner Kollegen – abends hin und rufe mir nochmal jedes einzelne Kind vor Augen: Habe ich den Schüler eigentlich wahrgenommen? Kann ich überhaupt noch sagen, was für ein Hemd der heute anhatte? Wenn man ein Kind nur blass vor Augen hat, wird man es am nächsten Tag genauer anschauen. Man kann sich antrainieren, dass man die Kinder wahrnimmt, da ist der Handschlag nur ein Teil davon. Das ist eine Art von Selbstschulung. Wenn man das lange genug übt, dann kann man sehr viel mehr sehen, als wenn man nur an seinem Stoff klebt.

Schütteln unterschiedliche Altersgruppen auch unterschiedlich die Hände? Gibt es da vielleicht eine Phase, wo die Schüler rebellischer sind, sich dagegen sträuben?

Nein, eigentlich nicht. Die Kinder finden das schön. Wissen Sie, bei uns herrscht so eine starke Vertrautheit zwischen den Kindern und den Lehrern, gerade weil man sich stärker wahrnimmt. Und wenn ein Kind das eine Zeit lang nicht wollen sollte, dann muss man sich eben fragen, was da gerade los ist. Hat das Kind vielleicht etwas erlebt, was man sehen sollte? Wenn sich ein Problem in einem Handschlag ausdrückt, dann liegt Größeres im Argen. Dann muss man sich ernsthaft fragen, ob man nicht an sich selbst etwas ändern muss. Aber das erlebe ich eigentlich nicht. Wenn einer heute mal nur vorbeihuscht, dann huscht er halt mal vorbei. Es ist immer eine ganz individuelle Begegnung.