Warum wir heute die Frage nach der Versorgung im Alter neu beantworten müssen – und können
Vollbeschäftigung in Deutschland, die Wirtschaft boomt seit Jahren. Da sollte doch genug Geld und Geist vorhanden sein, um die drängende Rentenfrage zu beantworten: Wie ist trotz der demografischen Entwicklung auch in Zukunft eine ausreichende und solidarische Altersversorgung möglich? Wir wollen in diesem Dossier aufzeigen, wie das aussehen könnte. Was die Politik leisten muss und wie wir uns und unser Denken verändern müssen, um im Alter zufrieden leben zu können.
Rente, das war einmal eine Zeit, in der die Großeltern nach 40 Jahren Arbeit und Familie endlich zu ihren Träumen aufbrachen. Sei es nach Italien oder auf den Liegestuhl in den eigenen Garten. Es waren die Jahre bezahlter Freizeit, auf die lange und oft auch hart hingearbeitet wurde, die jedoch oft auch wie ein Glücksspiel funktionieren konnten: Langeweile oder Krankheiten konnten das Alter bestimmen, und wer als Paar keine gemeinsamen Ziele hatte, bekam irgendwann Trennungsgedanken. Den nachkommenden Generationen wurde klar, dass sie nicht mehr auf die Rente warten wollten, sondern Italien und Liegestuhl jetzt schon genießen konnten.
Rente, das ist heute jedoch auch eine Vorstellung von wenig Geld und viel Unsicherheit. Diese Vorstellung ist nicht hilfreich, denn sie lähmt. Dabei können wir gestalten, wie wir unsere Jahre nach der Arbeit verbringen wollen. Und in welcher Gesellschaft wir dies tun wollen. Beides hängt, wie dieser Text zeigen wird, eng zusammen. Es gibt kaum eine andere gut gemeinte Sache, die so schlecht verkauft wird wie die Rente. Das Wort allein macht schon müde: R-e-n-t-e. Ich möchte nicht darüber nachdenken. Es ist unscharf, unklar, weit weg. Sage ich „Altervorsorge“, wird es auch nicht besser. Es klingt nach Vorsorge, die ich tragen muss, obwohl mir gleichzeitig signalisiert wird, dass für mich im Alter gesorgt wird.
So reiße ich dann einmal im Jahr die Post von der Deutschen Rentenversicherung auf („Ihre Renteninformation“) und schaue mit maximaler Distanz auf zwei Zahlen. Der Text erklärt mir die Bedeutung: Ihre bislang erreichte Rentenanwartschaft entspräche nach heutigem Stand einer monatlichen Rente von soundsoviel Euro. Unten steht eine höhere Zahl, die zeigt, was ich bekäme, wenn ich bis zum Rentenantritt mit dem Einkommensdurchschnitt der letzten fünf Jahre weiterarbeiten würde. Ich arbeite als Journalist in einer 50-Prozent-Festanstellung und nebenher freiberuflich.
Während und nach dem Studium habe ich zwei Firmen gegründet, mehr aus Idealismus als aus dem Wunsch nach dem schnellen Geld. Zum Leben hat’s immer gereicht, für die Rente ist es ein Hoffentlich-reicht-es. Auch meine Rücklagen sind eher überschaubar. Der Durchschnittsverdiener steht nicht besser da: Sein Bruttoeinkommen betrug im Jahr 2017 genau 3091,91 Euro. Die Rente, die er nach 45 Jahren kontinuierlich durchschnittlicher Einzahlung in die Rentenversicherung ausgezahlt bekäme, beträgt aktuell 1242,58 Euro im Westen und 1188,92 Euro in den neuen Bundesländern.
Es gibt kaum noch echte „Eckrentner“
Die Bürokratie hat einen Begriff erfunden für diesen Durchschnittsmenschen, der am Ende eines vollen Berufslebens steht: Im schaurig-schönsten Amtsdeutsch nennt sie ihn den „Eckrentner“. Echte Eckrentner gibt’s kaum mehr. Tatsächlich erhalten die meisten Deutschen deutlich weniger Rente, etwa weil sie nicht 45 Jahre eingezahlt haben oder weil sie das Durchschnittseinkommen nicht erreicht haben. 62 Prozent aller Rentner – und sogar 82 Prozent der Rentnerinnen – beziehen weniger als 1000 Euro Rente, erfuhr die Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann (Die Linke) nach einer Anfrage an das Arbeitsministerium. Sie liegen damit im Bereich der Armutsgefährdung.
Womit wir wieder bei mir wären. Und uns allen – oder ist hier noch jemand auf dem Weg zum Eckrentner? Unsere Lebenswirklichkeit hat sich fundamental gewandelt. Wir legen Wert auf flexible Arbeitszeiten und sinnstiftende Tätigkeiten. Wir verzichten auf Gehalt, um einen Tag für uns oder die Familie zu haben, wir arbeiten in kleinen, jungen Unternehmen, die das unterstützen – aber vielleicht morgen nicht mehr da sind. Und wir arbeiten in großen Unternehmen, die uns nur befristete Verträge anbieten, oder ein Praktikum nach dem anderen. Wir wechseln die Arbeitgeber, wenn uns das Angebot oder die Aufgabe reizt. Oder wenn unser Vertrag ausläuft. Manche wechseln ihre Berufe, studieren noch einmal. Und wir wechseln in die Selbstständigkeit, wenn uns der Ehrgeiz packt oder nichts anderes übrig bleibt.
Wir nehmen Auszeiten, Sabbaticals, Home-Office- und Elternzeit, um zu reisen, unseren Horizont zu erweitern oder bei unserer Familie zu sein, alles Dinge, die unsere Eltern und Großeltern noch aufs Rentenalter verschoben haben. Alles Dinge aber auch, die unser Rentenkonto niedrig halten. Mein Lieblingssatz auf der Renteninformation folgt deshalb unter den Zahlen. Er lautet: „Aufgrund zukünftiger Rentenanpassung kann die errechnete Rente tatsächlich höher ausfallen.“ Rente, das ist vor allem Hoffnung. Dass dies mal die Idee einer gerechten Gesellschaft, sogar ein solidarisches Prinzip sein sollte, erscheint heute vielen wie ein Witz.
Doch die Idee unseres Systems ist an sich gut: Der Staat hortet keinen Haufen Geld oder legt ihn am Kapitalmarkt an, sondern leitet die Einnahmen aus den Rentenabgaben sofort weiter an die Rentner. Das nennt sich Umlageverfahren. Es läuft solange gut, wie die Einnahmen genauso hoch sind, wie die Ausgaben. Wenn ich heute 9,3 Prozent meines Lohns in die Rentenversicherung zahle, vertraue ich also darauf, dass es auch in Zukunft genügend Einzahler gibt, die meine Rente finanzieren. Fakt ist aber: Wo heute – vereinfacht gesagt – drei Menschen im Erwerbsalter einen Rentner versorgen, stehen dafür 2035 weniger als zwei Einzahler zur Verfügung, denn wir werden immer weniger und immer älter. Das Prinzip Jung hilft Alt trägt also immer schlechter.
Renten steigen langsamer als Löhne
Im Ergebnis steigen die Renten dadurch langsamer als die Löhne. Und wer schon einmal etwas von Inflation gehört hat, ahnt, dass hier eine Kluft entsteht zwischen dem, was man in Zukunft zum Leben braucht, und dem, was die Rente dann noch wert ist. Von dieser „Rentenlücke“ liest und hört man daher auch immer wieder. Und es heißt dann, dass man seine Lücke selbst schließen soll, der Staat empfiehlt hierfür eine Riester-Rente und eine betriebliche Altersvorsorge. Die Versicherungswirtschaft freut sich, wir nicht. Beide Rentenprodukte sind nicht sonderlich transparent und ihre Renditen sind eher unattraktiv.
Dazu kommt, dass junge Leute in der Regel wenig Geld zur Seite legen können. Und die traurigste Erkenntnis ist: Auch wer von Beginn seines Arbeitslebens an die staatlich geförderte Zusatzvorsorge voll ausnutzt, hat im Alter immer noch eine Rentenlücke. Sie ist nur kleiner geworden. Was viele übersehen: Unser Rentensystem funktioniert zwar nicht mehr so, wie noch vor 30 Jahren, aber es funktioniert – und es ließe sich stabilisieren. Die Politik wird in den nächsten Jahren aushandeln, mit welchen Maßnahmen das geschieht. Vorschläge dafür gibt es heute schon genügend.
Nur ein paar Beispiele: Die Aufnahme von Selbstständigen in die Rentenversicherung würde sofort mehr Geld in die Kasse spülen. Ein anderer Weg wäre, auch Zinsen, Dividenden, Tantiemen oder Miet- und Pachterlöse abgabepflichtig zu machen. So würde die Rente nicht nur aus der Arbeit bezahlt, sondern aus der gesamten Wirtschaft – ein Schritt hin zur gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Wer die Rente als gesellschaftliches Gut betrachtet und konsequent weiterdenkt, gelangt schnell zu einem System mit Grundrente, die jedem gewährt wird, unabhängig von seiner Arbeitsleistung. Dänemark etwa praktiziert solch ein System bereits.
Spinnt man den Gedanken weiter und dehnt ihn auf die gesamte Bevölkerung aus, ist man bei einem bedingungslosen Grundeinkommen, das jedem nicht nur das Überleben, sondern auch Teilhabe an der Gesellschaft garantiert. Diese Systeme sind reizvoll, aber für ihre Finanzierung müssten neue oder deutlich höhere Steuern erhoben werden, die auch eine stärkere Umverteilung von oben nach unten bedeuten. Die politische Umsetzung ist heute nicht wahrscheinlich; wer weiß aber, wie es in 20 oder 30 Jahren aussieht? Eines wird in 30 Jahren ganz sicher noch eine Rolle spielen: der demografische Trend, der Deutschland immer älter werden lässt. Und ein immer größer werdender Anteil an Rentnern setzt jedes Rentensystem unter Druck.
Altersarbeit statt Altersvorsorge?
Doch das Gute an meinen Zukunftsvisionen ist: Ich arbeite gern. Das meine ich nicht ironisch. Ich möchte auch mit 66 Jahren noch Artikel schreiben oder auf andere Weise aktiv an der Gesellschaft teilnehmen, gut für mich, dass mich der Gedanke nicht erschreckt. Der Ökonom Robert Fenge erforscht den demografischen Wandel an der Universität Rostock. „Im Vergleich zum Ende der 1960er-Jahre werden heute geborene Deutsche im Schnitt zehn Jahre älter“, sagt er, und bis 2060 werde die Lebenserwartung voraussichtlich um weitere sechs bis sieben Jahre steigen. „Bisher wurde das verlängerte Leben immer dem Ruhestand zugeschlagen – das muss man korrigieren.“
Fenge arbeitet gemeinsam mit Kollegen an einem Automatismus dafür. Durch ihn würde das Eintrittsalter immer so weit erhöht, dass dadurch der nachteilige Effekt der längeren Lebenserwartung auf das Rentensystem – und nur dieser – aufgehoben wird. „Die Rente mit 70 wird kommen“, ist er überzeugt. Behält Fenge Recht, brauchen wir neue Lösungen zur Flexibilisierung des Renteneintritts und eine weitergehende Absicherung von Arbeitnehmern in körperlich oder psychisch belastenden Berufen. Denn, klar, nicht jeder Arbeiter teilt die oben beschriebene Patchwork-Biografie mit erbaulicher geistiger Tätigkeit und Raum für Selbstverwirklichung. Die Unternehmen werden sich noch stärker als bisher auf ältere Arbeitnehmer einstellen müssen.
Nicht weniger als ein Kulturwandel ist nötig, weg von der Stigmatisierung und Benachteiligung von älteren Menschen in der Arbeitswelt, hin zu flexiblen, inklusiven Lösungen, die es Menschen zwischen 55 und 75 ermöglichen, so viel zu arbeiten, wie sie wollen und können. Weiterdenken muss man auch, wenn es um den Arbeitsmarkt für die Jüngeren geht. „Das eigentliche Problem ist nicht die Rentenpolitik, sondern die Arbeitsmarktpolitik oder die Familienpolitik“, sagt Michaela Kreyenfeld, Soziologin und Expertin für die Alterssicherung von Frauen an der Hertie School of Governance in Berlin.
Viele Eltern, vor allem die Mütter erfahren am eigenen Leib, wie die Erziehung von Kindern Einfluss auf ihr Erwerbsleben und auch auf die Lohnentwicklung hat und – andersherum – welchen Einfluss die Arbeitsbedingungen auf das Leben mit Kindern haben. Ich kann mein eigenes Lied singen, ich bin froh über flexible Arbeitszeiten und die Möglichkeit, einen Arbeitstag spontan abbrechen zu können, um mich um meine Tochter zu kümmern – und am Abend oder am Wochenende dafür länger zu machen. Doch häufig stehen Elterndasein und Beruf sich in Deutschland unversöhnlich gegenüber, mit dem traurigen Effekt, dass vor allem Mütter schlechter verdienen und niedrigere Renten haben. „Die Gefahr der Altersarmut ist bei Frauen deutlich höher als bei Männern“, sagt Kreyenfeld.
Wir sollten aufhören, zu jammern
Hinzu kommt, dass ein solches Umfeld das Kinderkriegen eher unattraktiv macht. „Werden bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie Fortschritte erzielt, steigen auch die Geburtenraten“, meint der Rostocker Rentenforscher Fenge – ein weiterer positiver Effekt für die Rentenversicherung. Vorausgesetzt, „die Ausbildung stimmt und der Nachwuchs gelangt auch in gut bezahlte Arbeitsverhältnisse und kann so ausreichend hohe Beiträge in die Rentenversicherung einzahlen“, ergänzt er. Es ist eigentlich selbstverständlich: Gute Bildung und familienfreundliche Arbeitsbedingungen zahlen sich in höheren Renten aus. Aber die Praxis sieht oft noch aus, als lebten wir in den 70ern.
Beispiel gefällig? Versucht mal, unter Ärzten im Krankenhaus einen Vater zu finden, der mehr als zwei Monate Elternzeit genommen hat. Wird schwierig. Wir können die Rentenproblematik nutzen, um gesellschaftliche Entwicklungen einzufordern und zu beschleunigen – hin zu einer Gesellschaft, in der Arbeit gut bezahlt wird, für Männer und Frauen gleichermaßen zur Verfügung steht, nicht krank macht, sondern einen erfüllt, sich mit dem Kinderkriegen verträgt und auch im Alter noch gut zu schaffen ist. Dies sind die Stellschrauben, die langfristig und nachhaltig auf unser Rentensystem wirken. Und sollte sich das mit der Vision decken, die Ihr sowieso von unserer Gesellschaft habt, ist das kein Zufall. Es handelt sich um Selbstverständlichkeiten, die noch nicht selbstverständlich sind.
Das Weiterdenken muss in allen gesellschaftlichen Bereichen stattfinden. Und bei jedem Einzelnen: Wir Jüngeren müssen aufhören, bei dem Thema Rente den Kopf in den Sand zu stecken. Und wir sollten aufhören zu jammern, weil wir nicht wie unsere Großeltern mit 65 den Liegestuhl aufklappen dürfen. Die Arbeitswelt hat sich verändert und sie wird sich weiter verändern, durch technischen Fortschritt und Globalisierung. Wir sollten das nicht als Schicksal begreifen, sondern aktiv mitgestalten. Fangen wir bei der Terminologie an: Schaffen wir den Eckrentner ab, dieses aus der Zeit gefallene Konstrukt staubiger Amtsstuben. Und wenn wir in Zukunft von der Zeit nach der Arbeit sprechen, lasst uns bitte nicht mehr Rente sagen. Sondern einfach arbeitsfreie Zeit. Sagt es doch gleich mal laut: Arbeitsfreie Zeit.
Dieser Text erschien zu erst im Enorm-Magazin. Die Recherche wurde unterstützt durch ein Schöpflin-Stipendium für lösungsorientierten Journalismus. Die Schöpflin-Stipendien werden von der Noah Foundation gemeinsam mit der Schöpflin Stiftung vergeben.